Tja, das Jahr 1989 hatte es in sich. Für die ganze Welt, aber schauen wir bloß mal auf Deutschland.
Das begann schon im Frühling mit einem historischen Ereignis. Da wurde nämlich am 21. April der Deutsche Cricket Bund gegründet. Auf Schloß Philippsruhe in Hanau. Steht bei Wikipedia. Der deutsche Cricket Bund hat das vermutlich inzwischen vergessen -, war ja auch eine lange Zeit, da vergisst man schon mal, wie’s dazu kommen konnte, jedenfalls steht bei denen auf ihrer Webseite unter „Verband“, dass sie regelmäßig den Pepsi-Cola Award kriegen, und unter der Rubrik mit den Pepsi-Auszeichnungen haben sie noch eine mit der Überschrift „Geschichte“. Wenn man die anklickt, kann man lange warten, da kommt nix, die Seite mit der Geschichte ist leer, aber immerhin: man kann sie auf Facebook und Twitter teilen.
Im Sommer des Jahres schrieb die bedeutende Autorin Birgit Vanderbeke ihr Debüt, das sie „Das Muschelessen“ nannte. Daran wieder kann sie sich noch sehr gut erinnern, allerdings sonst keiner, weil die Entstehung natürlich nicht in Wikipedia steht.
Sehr wohl allerdings steht dort ein bahnbrechendes Datum des Jahres 1989: am 5. Oktober fand der erste „lange Donnerstag“ statt, der rückwirkend als Startschuss zu begreifen ist, als das Steinchen, das die Lawine der Ladenöffnungszeiten ins Rollen brachte und sie im folgenden Jahrzehnt ganz einfach niedergerissen hat, und inzwischen weiß kaum noch einer, wie das war, als man noch nicht rund um die Uhr einkaufen konnte, vierundzwanzig von vierundzwanzig Stunden.
Etwas später als der „ lange Donnerstag“ erfolgte das Highlight das Jahres ‚’89: im November eröffneten Jan Klabunde und Alexander Kühnl in Meldorf/Dithmarschen – das ist da, wo die Bahnlinie immer noch nicht elektrifiziert ist – einen Buchladen.
Das war der Gipfel. Erstens gab’s schon eine Buchhandlung, und zweitens: wieso braucht so ein kleiner Ort mit überhaupt nur siebeneinhalb tausend Leuten überhaupt eine Buchhandlung?
Die Ecke da (oben links, ich hab’s gesagt, ist ja auch so) besteht doch praktisch nur aus Wattenmeer mit Touristen, Feldern mit Kohl und nochmal Kohl und hier und da ein paar Wiesen mit Schafen. Zwanzig Jahre später sind wegen der EU-Gelder auf den Kohläckern und den Schafwiesen noch 792 Windkraftanlagen dazugekommen, aber die betreffen nicht Meldorf persönlich, sondern ganz Dithmarschen, wo im übrigen auch noch massenhaft Erdöl herumliegt, das mitsamt seinem premium-mäßigen Nelson-Index von 9,6 jedoch nicht in Meldorf, sondern eher in Heide und Brunsbüttel gefördert wird. Nicht gefördert wird im Augenblick seitens des Landkreises das Fracking, weil es unschön aussieht und den Touristen nicht so gefällt, denen schon die Windkraftanlagen auch nicht so besonders gefallen, aber gut, und jedenfalls hatte Meldorf im Jahr 1989 schon einen Buchladen und war damit dicke in der Überversorgung mit Kultur.
Nehmen wir nur mal zum Vergleich die Stadt Laredo in Texas. Der Vergleich liegt nahe, weil es dort auch Wasser gibt. Nur liegt die Stadt halt nicht an der Miele, sondern am Rio Grande. In Laredo jedenfalls haben sie wie in Meldorf und Umgebung Schafe, Erdöl, Erdgas und Felder. Die sind zwar nicht voller Kohl und nochmal Kohl, sondern bei denen in Laredo wachsen massenhaft Pepperonis , die sie in ihrer Peperoni-Fabrik einmachen, und zu diesem Zweck haben sie – schon elf Jahre vor dem historisch bedeutsamen Jahr 1989, über das wir hier sprechen, ein kulturelles Ereignis ins Leben gerufen, das man sich in Meldorf einmal genauer anschauen sollte. In Laredo gibt es nämlich im Sommer, wenn die Touristen da sind oder durch das Ereignis angezogen werden, das sogenannte Jalapeno-Fest mit allem Drum und Dran und der anschließenden Zeitungsüberschrift: „Mann ißt 247 Jalapenjos“. Vorstellbar wäre hier in Meldorf beispielsweise analog die Wahl einer „Miss-Sauerkraut“, ein Sauerkraut-Talentkochen bzw. ein XXL-Sauerkaut-Essen und ein „Sauer-macht-lustig“-Song-Contest.
Gesponsert wird das dortige Fest nicht von Pepsi, sondern von der Firma Uni-Trade, die nicht in Limonade macht, sondern in ERP. ERP heißt Energy-Resource-Planning, hat mit Warenwirtschaft zu tun und bedeutet Geld, von dem sie bei Uni-Trade so viel haben, dass sie nicht nur das Jalapeno-Festival mitsamt den 2000 Dollar stiften können, die der Jalapeno-Award dem Mann mit den 247 Peperoni eingetragen hat, sondern sie haben der Stadt Laredo sogar das berühmte Uni-Trade-Stadion geschenkt, in das pi mal Daumen die Gesamtbevölkerung von Meldorf reinpasst und das eigentlich ein Baseball-Stadion ist, aber wenn mal kein Baseball-Event dort stattfindet, sondern eine Massenparty oder ein Konzert, dann passen sogar 16.000 Leute rein, und da liegt nun – neben den überwältigend vielen Parallelen zwischen Meldorf und Laredo - der eigentliche Unterschied zwischen diesen beiden Kommunen: Laredo braucht sein großes Baseball-Stadion, weil dort sage und schreibe 250.000 Menschen von Peperonis, Schafen, Öl, Gas, Geld und Tourismus leben, ein paar auch von Drogen, weil die Stadt nicht nur am Rio Grande, sondern auch an der mexikanischen Grenze liegt, und es ist nicht bei Wikipedia erfasst, wie viele Arbeitsplätze die Mafia im Laufe der Jahre durch dieses Gewerbe geschaffen hat, weil sie es nicht gern hat, wenn Journalisten in diese Richtung investigativ tätig werden (wer hat das schon gern?), in Laredo werden die dann schon mal geköpft und erhängt, und außerdem fand dort im Jahr 2012 erstmals das sogenannte Laredo-Massaker statt, ein innermafioses Event, bei dem 49 Arbeitsplätze vernichtet wurden, und es ist anzunehmen, dass weitere derartige Ereignisse auch künftig regelmäßig stattfinden, von den geköpften und gehängten Journalisten allerdings nicht investigativ erforscht und somit von der Öffentlichkeit und den Statistiken nicht erfasst werden können, jedenfalls:
Im Unterschied zu Meldorf, das sich im Jahr 1989 mit der Gründung einer zweiten Buchhandlung für einen klitzekleinen Ort, dessen Bewohner mal locker ins Baseball-Stadion von Laredo passen, eigentlich eine Frechheit und eine glatte Energie-Ressourcen-Fehlplanung geleistet hat, können die 250.000 Menschen in Laredo sich zwar nach Herzenslust mit Jalapenjos und mexikanischen Drogen vollstopfen, nur wenn sie mal eine Jalapenjo- oder Kokspause einlegen und sich zur Abwechslung mit Lesestoff aus Büchern vollstopfen wollen, müssen sie 150 Meilen weit fahren, weil es in Laredo nämlich keinen Buchladen gibt. In Worten: Keinen einen. Der nächste Buchladen ist zwei Autostunden entfernt. In San Antonio.
Laredo ist nicht die einzige Stadt, die kapiert hat, dass man seine Energie-Ressourcen besser zu planen und in andere Stoffe zu investieren hat, um eine anständige Warenwirtschaft hinzubekommen, als ausgerechnet in Bücher, in denen erfundene Geschichten erzählt werden (dazu braucht man nur die Nachrichten anzusehen) oder eine Geschichte über wie das in den letzten fünfundzwanzig Jahren eigentlich so war, denn das ist eine Geschichte, von der selbst der Deutsche Cricket Bund nicht mehr so richtig weiß, wie sie eigentlich angefangen hat.
Etwa um die Zeit, als diese auch von der dort ansässigen Bevölkerung durchaus als überschüssig empfundene Buchhandlung in Meldorf eröffnet hatte, passierte die Sache mit dem Zettel, die auch irgendwie historisch war, aber man kriegt vermutlich nie so ganz raus, was da passiert ist, jedenfalls hat der Typ, der im Fernsehen eine Pressekonferenz abhalten sollte, entweder seinen Zettel nicht gefunden, oder er hatte gar keinen, obwohl der Zettel später auf Youtube aufgetaucht ist, oder der Typ hatte auch so ein Problem mit dem Lesen wie die Leute in Laredo, weil die natürlich irgendwann auch nichts mehr ablesen können, wenn sie das nie mehr machen, jedenfalls kriegte dieser Typ nicht mehr zusammen, was da auf seinem Zettel stand oder gestanden hatte, und dann war das wie mit dem „langen Donnerstag“. Er stotterte irgendwas in die Mikrofone, das nicht so ganz kohärent war und offensichtlich weder Hand noch Fuß hatte und von dem er mit Sicherheit selber nicht kapierte, was er da sagte, und im Nachhinein sagen die einen, es war eine friedliche Revolution, die anderen sagen, der Osten war sowieso pleite (hätten sie nur damals schon eine ordentliche ERP gehabt!), und jedenfalls brach die Lawine los, und die Mauer fiel. Plötzlich waren Bananen angesagt, und die ganze Welt war da mit verwickelt, noch lange, bevor sie global wurde, nicht nur wegen der Bananen, vielleicht eher deshalb, weil Pepsi und Uni-Trade und die anderen natürlich nicht lange gefackelt haben, sondern schleunigst die Energieressourcen neu geplant und auf prickelnde Weise in Geld gemacht haben.
Die kleine Buchhandlung in Meldorf hat ein Pseudonym im Titel, und es ist ja klar, das von allen Pseudonymen, unter denen Kurt Tucholsky geschrieben hat, Peter Panter der beste Name für einen Buchladen ist, jedenfalls leuchtete er mir sofort ein, als ich ein paar Jahre später von diesem Laden und überhaupt von Meldorf erfuhr. Ich liebe Tucholsky schon seit immer.
Heute weiß ich nicht mehr, was mich damals in Frankfurt mehr beeindruckte: Jans Haarfarbe und Outfit in spätem Punk oder der Umstand, dass zwei junge Männer im Jahr 1995 in einem mir unbekannten Ort eine Buchhandlung betrieben, die mit Tucholsky zu tun hatte. In den neunziger Jahren hatte nichts und niemand mehr mit Tucholsky zu tun wie noch zwanzig Jahre vorher, und die meisten Leute, die in den siebziger Jahren in Frankfurt in der Katakombe keinen Tucholsky-Abend ausgelassen hatten, erinnerten sich nicht mehr daran, sondern standen mit Schlips und Kragen auf der Buchmesse und diskutierten den Quatsch-Comedy-Club oder die Harald-Schmidt-Show.
Jedenfalls fragte dieser punkige Jan (der erst Jahre später seinen Nachnamen preisgab), ob ich mir vorstellen könnte, mit einer nicht elektrifizierten Bahn nach Meldorf zu fahren und auf Einladung des Peter-Panter-Buchladens dort eine Lesung zu machen, und ich habe einen leisen Hang ins Abenteuer und konnte mir sehr gut vorstellen, von Hamburg aus mit einer nicht elektrifizierten Bahn gen Westen ans Ende der Welt zu fahren, und an diesen Besuch erinnere ich mich auch noch sehr gut, aber ich mag das jetzt nicht im einzelnen erzählen, den Schnee, das kleine warme Haus, das Sofa, die Kaffeemaschine, die winterliche Behaglichkeit, stattdessen gibt es einen schönen Satz von Tucholsky, der mir zu diesem Besuch einfällt und den ich nur wenig abwandeln muss, um zu beschreiben, wie das war: Man sollte gar nicht glauben, wie gut wir 1995 auch ohne die Erfindungen des Jahres 2014 auskommen konnten (Schnipsel, 1932).
Jan und Alexander kamen übrigens so lange ohne die Erfindung des PC aus wie keine andere Buchhandlung der Republik, und das finde ich alle Achtung.
Und dass sie nicht pleite gegangen sind, nachdem allmählich all die Dinge erfunden worden waren, ohne die wir sehr gut auskommen konnten, das finde ich mehr als alle Achtung.
Wir konnten prächtig ohne Thalia und all die anderen Buchhandelsketten auskommen, die Mitte der neunziger Jahre infolge der warenwirtschaftlichen Ressourcen-Neuplanung übergangsweise alle Innenstädte heimsuchten (mit Ausnahme von Meldorf natürlich) und dort anfingen, Buchhändler abzumurksen und Bücher nicht mehr als Bücher, sondern vom Stapel runter tonnenweise zu verscherbeln. Ganz hervorragend lebte es sich auch ohne den 24-Stunden-Konsum-Service von Amazon, der seinerseits inzwischen Thalia und Konsorten abmurkst, nicht nur im Buchgeschäft und nicht nur in Laredo. Bücher wurden bei Koch, Neff und Oetinger bestellt, und ein paar Tage später holte man sie eben ab, und wenn jemand Stammkunde in einer Buchhandlung war und gelegentlich auf dem Sofa saß, in Büchern blätterte, Kaffee trank und ein bisschen schwätzte, dann durfte er meistens auch selbst im KNÖ nach dem Titel suchen, dessentwegen er in den Buchladen gegangen war, wegen des Titels, des Sofas, des Kaffees undsoweiter, und komischerweise hat das Smartphone, I-Pad, das Tablet nicht gefehlt, das Handy, ohne das heute keiner mehr auskommen kann und auf das man sich rund um die Uhr in Sekundenschnelle für 99 Cent massenhaft Mist herunterladen kann, auf der Stelle 200 Megabytes Buchstabendreck, der mit einem Buch reinweg gar nichts zu tun hat und vor dem sich inzwischen Verlage, Buchhändler und Autoren zu fürchten gelernt haben, denn es ist zwar vieles in diesen Jahren hinzugekommen, aber, so wusste Tucholsky im Jahr 1932, es ist nicht nur vieles hinzugekommen, es ist auch vieles verloren gegangen, im guten wie im bösen. Damals hatten wir vieles noch nicht. Aber heute haben wir vieles nicht mehr. Laredo zum Beispiel einen bookstore.
Dass wir den Peter-Panter-Buchladen noch haben, hängt damit zusammen, dass Jan und Alexander diesen Kurt Tucholsky wirklich verstanden haben.
„Man soll nichts tun, was einem nicht gemäß ist“, hat der gesagt, und so ist das, und dann schafft man es auch, in Meldorf einen zweiten Buchladen fünfundzwanzig Jahre lang am Leben zu erhalten und schließlich Annette zu finden, weil da eine Frau gefehlt hat („Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen“), und noch ein Antiquariat zu eröffnen, und so möchte das bitte weitergehen und -bleiben, und dafür wünsche ich Euch und dem Peter-Panter-Buchladen, dass Ihr auch weiterhin nichts tut, was Euch nicht gemäss ist, und natürlich Glück!