Daß ich jetzt drei Tage lang eine Professorin sein soll, erscheint mir äußerst befremdlich.
Dieses Befremden will ich versuchen, Ihnen zugänglich zu machen. Es hat wesentlich mit der einigermaßen shakespearehaften Rolle zu tun, die das Lesen in meinem Leben gespielt hat, und zwar in beiden Formen, in der Form des „to read“ und ebenso in der des „not to read“.
Weil ich aber nur beinah eine Wissenschaftlerin geworden wäre und dann, ausgelöst durch ein dramatisches Ereignis im Jahr 1987, meine akademische Karriere, die sich mit zwei Doktorandenstipendien gar nicht so schlecht anlassen wollte, über den Haufen schmiß, um fortan Geschichten zu erzählen, wird diese Vorlesung eben auch eine Geschichte, und wie sich das gehört, fängt sie zwar keineswegs am Anfang an, aber sie tut so, als sei das, wo sie einsetzt, der Anfang; und der liegt in meinem Fall präzise auf dem Nikolaustag 1961, und es war ein anderer Anfang, ein unvergeßlicher, der mein Leben nach diesem Nikolaustag einigermaßen in die Hand nahm. Er ging so:
Ich heiße Lisa. Ich bin ein Mädchen. Das hört man übrigens auch am Namen. Ich bin sieben Jahre alt und werde bald acht.
Ich meinerseits war fünf Jahre alt und würde so bald auch noch nicht sechs.
In den sechziger Jahren galt es als pädagogisch höchst bedenklich, wenn Kinder lesen konnten, bevor sie in die Schule kamen. Alle Eltern von Kindern, die gerne lesen können wollten, taten alles, um die Kinder daran zu hindern, auch meine Eltern, die indes gar nichts dabei gefunden hatten, mir das Flötenspielen und damit die Notenschrift beizubringen, vielleicht hat die Buchstabenverhinderung deshalb bei mir nicht geklappt.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich in die Illegalität geraten war, indem ich, keine Ahnung ob nach der Buchstabier-, Lautier- oder sonst einer mehr oder weniger ganzheitlichen Methode, jetzt jedenfalls lesen konnte und so sehr auch wollte, daß der Nikolaus, der offenbar von den pädagogischen Richtlinien jener Jahre nichts wußte, mir die Kinder von Bullerbü in den Stiefel gelegt hatte.
Ich war darauf gefaßt, daß meine Eltern das Buch konfiszieren würden, und staunte ziemlich, daß sie sich zwar besorgte Blicke zuwarfen, aber bereit waren, sich der Autorität des Nikolaus zu unterstellen.
Für diese Vorlesung hier ist es äußerst praktisch, daß mein erstes Buch eines von Astrid Lindgren war, weil ich bei Astrid Lindgren wie natürlich den Brüdern Grimm, einigermaßen sicher bin, daß Sie ihre Bücher wenigstens teilweise kennen. Wir haben hier also – wenngleich zeitversetzt – die gleichen Bücher gelesen, was, wie Sie bald sehen werden, eine äußerst kostbare Ausnahme sein wird, und auch die ist mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, denn Sie befanden sich bei der Lektüre vermutlich irgendwo in den achtziger Jahren und im Zustand der Legalität, Sie wurden mit einiger Sicherheit nicht losgeschickt, um im weit entfernten Gemischtwarenladen einen Ring Fleischwurst von der besten zu holen, den Sie auf dem langen Weg vergessen hätten, denn die Fleischwurst, die Sie gegessen haben, kam bereits überwiegend aus dem HL oder Schade-Markt, und die Milch, die Sie zu der Kinderschokolade getrunken haben, während Sie gelesen haben, kam aus dem Tetrapack, während ich von der Erfindung der Kinderschokolade als Lektürebegleitung höchstens träumen konnte, andererseits durchaus und oft meinen Einkaufszettel rhythmisch hickelnd auswendig vor mich hin sang und im Vergessensfall gelegentlich mehrmals gehen mußte. Zu meinen Lektürevoraussetzungen für die Kinder aus Bullerbü gehört überdies die zwiespältige, aber ungemein prickelnde Erfahrung, daß man auf dem Heimweg vom Milchholen rasante physikalische Versuche mit der Milchkanne anstellen kann, bei denen man mit etwas Glück das Gesetz der Zentrifugalkraft entdecken konnte, im anderen Fall das danebengegangene Experiment mit dem Taschengeld zu finanzieren hatte.
Nun werden Sie sagen, was haben die Milchkanne und die Zentrifugalkraft mit Lisa aus Bullerbü zu tun, denn wenn Sie sich richtig erinnern, vergißt Lisa zwar die Fleischwurst, aber es kommt kein Milchkannen-Malheur in dem ganzen Buch vor, und da stehen wir vor einem regelrechten germanistischen Phänomen, mit dem sich die Hermeneutik beschäftigt und über das ich heftig nachdachte, während Sie die Kinder von Bullerbü lasen, nämlich dem Phänomen, daß man nicht nur etwas aus Büchern herauslesen kann, sondern daß man immer auch etwas hineinliest, denn Lisas Geschichte mit der vergessenen Fleischwurst ist eine, die Sie eher nicht kennen, ich jedoch leibhaftig erlebt habe, wenn auch nicht in Schweden auf dem Land, sondern in Deutschland in einer Stadt, aber ganz zweifelsfrei ist die Geschichte mit der Milchkanne und der Zentrifugalkraft, die ich erlebt habe, so sehr der Geschichte der vergessenen Fleischwurst benachbart, daß ich ganz sicher bin, Lisa hat sie auch erlebt oder hätte sie so auch erlebt haben können, und sie steht zwar nicht im Buch, aber ich lese sie da hinein.
Von keinem hermeneutischen Geheimnis berührt, machte ich mich fünfjährig an die Lektüre, die mich auf der Stelle meiner Identität beraubte. Ich war nicht mehr das fünfjährige Kind, das sich schrecklich in der zu einem Flüchtlingslager umgebauten Ex-Kaserne langweilte, in die es geraten war, ohne zu wissen, warum; ein Kind, das seine Großmütter und den großen Garten vermißte, dessen Mutter dauernd heulte, weil sie mit Bürokratie, dem Nachholen einer Prüfung und dem unzufriedenen Mann überfordert war – diese höchst reale und dazu noch grausam beengte Wirklichkeit war weg, und ich wurde Lisa, war sieben Jahre alt, nach Schweden gebeamt, und was das Merkwürdigste war – ich fand diesen Bodyswitch überhaupt kein bißchen besorgniserregend, sondern überließ mich ihm willenlos und genoß ihn, solange er dauerte.
Anschließend stellte sich ein Gefühl ein, das ich von da an unendlich oft verspüren würde, das ich fürchten lernte und das mich später immer wieder dazu brachte, nie mehr lesen zu wollen, ein dumpfes Gefühl von Leere in einer glanzlosen, erbärmlichen Wirklichkeit, einem erbärmlichen Raum und einem erbärmlichen Körper, kurz: So leicht es mir gewesen war, in das Buch hineinzurutschen, so schmerzhaft war es, wieder daraus in die eigene Welt zurückzukehren.
Später habe ich oft gesagt, die Kinder von Bullerbü haben mich angefixt.
Folglich drängte ich meine Eltern, wo jetzt doch sowieso der Sündenfall eingetreten und der selige oder vielleicht auch nicht so selige Stand der Unschuld und des Illetrismus ein für alle Mal beendet war, mich mit weiterer Lektüre zu versorgen, was ein Problem war, denn bei der Flucht hatten sie natürlich fast alle Bücher zurückgelassen.
Es fanden sich schließlich zwei, von denen sie beschlossen, daß ich sie lesen könnte, und das ging gründlich daneben.
Die Biene Maja muß ein magisches Buch für meine Mutter gewesen sein. Sie bemerkte nicht einmal, daß es in Frakturschrift gedruckt war, als sie es mir gab, und ich konnte das alte „s“ nicht, es sah genauso aus wie das „f“ und das „k“, das „y“ war kaum vom „h“ zu unterscheiden, und was das schlimmste war und geradezu eine persönliche Beleidigung: das große „B“ war nichts anderes als das große „V“, und diese beiden Buchstaben sind bis heute meine Initialen und haben mich schon damals in einen privaten Menschen und einen, zu dem es eine Familie gibt, unterschieden.
Die Biene Maja fand absolut keine Gnade bei der kleinen Leserin, sie wurde zurückgewiesen und nie wieder erhört. Selbst später, als das Hören des gleichnamigen Schlagers nicht mehr zu vermeiden war, war es ein Hören voller Verachtung.
Warum der „Nils Holgerson“ von Selma Lagerlöf nicht einschlug, hätten sich meine Eltern eigentlich denken können. Kleiner Junge ist böse, spielt Wichtelmännchen Streiche, wird in Wichtelmännchen verwandelt, geht mit Wildgänsen auf Reise und sieht Schweden von oben, bevor er wieder zurückkehrt. Seinen Freunden stirbt die Mutter, der Vater verläßt sie, um Arbeit zu suchen, und die Mutter ist zwar nicht an dem Fluch einer Zigeunerin gestorben, sondern an der Tuberkulose, aber tot ist sie allemal und bleibt es; auch daß Nils Holgerson zum Schluß wieder ein Mensch wird, hat bei mir als Happy End für einen tristen Text einfach nicht gezogen. Das schwedische Elend von 1906 und das im Flüchtlingslager ähnelten sich, und später habe ich gemerkt, daß ich kein großer Fan des Naturalismus bin. Immerhin machte ich mit diesem Flop die frühe Erfahrung, daß etwas, was für meiner Mutter gut war, es womöglich für mich nicht wäre, was mir, daran erinnere ich mich, sehr zu schaffen machte.
Wenn ich nun gedacht hatte, mit dem Eintritt ins Schulleben würde das Lesen uneingeschränkt die Weihen des Erlaubten erhalten, dann hatte ich mich gewaltig getäuscht, und schon das unterscheidet Ihr Leseleben von dem einer vorangegangenen Generation, denn als Sie zu lesen begannen, gab es längst etwas noch viel Teuflischeres als Bücher, nämlich Computer. Ihre Eltern und Lehrer haben Sie womöglich mit Büchern übergenug versorgt, jedenfalls aber mit der Aufforderung, doch lieber zu lesen, anstatt am Computer zu sitzen, denn innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums hat sich das Verhältnis zu diesem Medium einfach deshalb radikal verändert, weil es so unglaublich an Bedeutung verloren hat, daß keiner mehr auf die Idee kommt, es könnte gefährlich sein, junge Menschen auf falsche Wege und Gedanken bringen und überhaupt schaden. Nicht nur den Augen.
Meine Eltern stellten sich als halbwegs milde Zensoren heraus. Ich bekam einen Ausweis für die Stadtteilbibliothek, und was ich da tat, war mir überlassen. Zu meinem größten Bedauern war aber das Gesamtwerk von Enid Blyton auf dem Index, insbesondere die Teile dieses Werkes, die mit „ Fünf Freunde“ anfingen und über die alle in der Schule sprachen. Meine wiederholte Bitte, es von der schwarzen Liste zu nehmen, nutzte nichts, meine Eltern hatten beschlossen, daß dieses Werk keinen guten Einfluß auf mich haben würde, vielleicht deshalb, weil jemand ihnen erzählt hatte, daß darin ein Mädchen vorkam, das gern ein Junge gewesen wäre, und ich hätte sehr gern ein paar Hosen gehabt anstatt der Schottenröcke, die auf dem Schulhof nicht angesagt waren.
Meine Freundin Bärbel Frühauf hatte es da schwerer. Eines Tages begegnete mir ihre Mutter bei der Ausleihe, sah, daß ich drei Bände „Pippi Langstrumpf“ nach Hause tragen wollte, und sagte entsetzt: Erlauben deine Eltern so was? Ich erfuhr, daß im Radio davor gewarnt worden sei, und ihre Bärbel jedenfalls bekam so etwas nicht in die Finger. Anschließend zog sich ihre Bärbel auffallend von mir zurück, weil ihre Mutter wohl nicht nur Pippi Langstrumpf, sondern auch die Leser derselben für anarchieverdächtig und gesellschaftszersetzend hielt.
Inzwischen hatte eines Morgens mein kleiner Bruder, fünfjährig, langsam, laut und mit klarer Stimme am Frühstückstisch das Wort „Bärenmarke“ artikuliert, das auf der Dose stand, die bei uns nicht Bärenmarke, sondern ihrem Gattungsnamen nach Kaffeemilch enthielt, weil diese Kaffeemilch nicht immer Bärenmarke, sondern manchmal auch Glücksklee sein konnte. Meine Eltern hatten also auch bei ihrem zweiten Kind pädagogisch versagt. Mein Bruder konnte lesen.
Ich teilte unverzüglich meine Initial-Lektüre mit ihm und machte meine erste bittere Gender-Erfahrung. Mein Bruder dachte nämlich beim Lesen nicht im geringsten daran, sich nach den furiosen ersten Sätzen in Lisa zu verwandeln. Er fand Lisa doof, ihr Zimmer albern, und erst als Lasse auftauchte, ließ er sich überhaupt auf die Kinder von Büllerbü ein, so lange war das für ihn Mädchenkram. Was Mädchenkram war, lernte man zu der Zeit schon im Kindergarten, weshalb es mir auch so wichtig war, Jeans zu tragen anstatt der karierten Schottenröcke.
Was er außerdem noch im Kindergarten lernte, führte dazu, daß er sich praktisch als Krimineller durch seine gesamte Kindheit schlagen mußte, nämlich Micky Mouse und Donald Duck, und aus Gründen, die mit einem Ressentiment gegen deren Herkunftsnation zusammenhängen, stand bei uns darauf Knast, mein Bruder war also immer mit einem Bein im Gefängnis des Hausarrestes, wenn er sich dem gefährlichen Trieb hingab, diesen Stoff nicht nur zu beschaffen, sondern auch irgendwie in die Dreizimmerwohnung, die wir inzwischen hatten, hineinzuschmuggeln und dort vor den alles sehenden Augen unserer Mutter zu verstecken.
Vor einiger Zeit hat – kurz vor ihrem Tod – die deutsche Übersetzerin dieser kinderverderbenden Schundmachwerke im gleichen Jahr sowohl den Heimo-von-Doderer-Preis als auch den Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim erhalten, was mich auch deshalb so gefreut hat, weil ich darin die rückwirkende Teilrehabilitierung eines kleinen Jungen gesehen habe.
Ich wiederum trat in die große und lange Phase der Karl-May-Lektüre. Die verdankte ich diesmal meinem Vater, der als Nachkriegskind mit Schwarzmarkt und Tauschhandelsgeschäften aufgewachsen war, zu denen selbstgebastelte Fußbälle aus den Resten alter Schuhe sowie vorwiegend zerlesene Exemplare gleich welches der über sechzig Karl-May-Bände gehört haben müssen, und mein Vater rühmte sich, siebenundfünfzig davon gelesen zu haben. Noch bevor ich mich allerdings, wieder ohne zu zögern, in Winnetou transformierte, was immerhin angesichts meiner andauernden Schottenröcke und leider kurzen Haare ein ziemlich erstaunlicher, immerhin geschlechtsumwandelnder Vorgang war, erfuhr ich etwas Schockierendes: Dieser Karl May war ein Zuchthäusler gewesen. Der hatte aus einer Kneipe Billardkugeln mitgehen lassen, der hatte einen Gaul samt Trense und Peitsche aus einem Stall geklaut, um ihn beim Schlachter zu Geld zu machen. Nur zum Beispiel. Der hatte sich bei einem Bäcker als Expedient eines Anwalts vorgestellt, dem hat er gesagt, es gäbe da und da eine Erbschaftsangelegenheit für ihn zu regeln, der Mann ist losgefahren, Karl May hat die Zeit ausgenutzt, ist zu ihm nach Hause, hat sich dort als Polizist ausgegeben und bei der Frau des Bäckermeisters eine saftige Menge Taler mit der Behauptung konfisziert, das sei alles Falschgeld.
Mein Vater erklärte seelenruhig, dieser Karl May habe nicht alle Tassen im Schrank gehabt. Heute heißt die Krankheit offiziell dissoziative Identitätsstörung. Mein Vater sah offenbar gar nichts dabei, daß seine noch nicht einmal zehnjährige Tochter das Machwerk eines Delinquenten las, der nicht alle Tassen im Schrank hatte, über die eigene Identität schwer verwirrt war und nachweislich andauernd neue Identitäten annahm, mit denen er sich hinter Gitter brachte und mit denen er vor allem das zehnjährige Mädchen anstecken würde, das seinerseits jetzt für Jahre mit der Identität seines Protagonisten herumlaufen müßte.
Zeitgleich mit meiner Lektüre entstanden die Winnetou-Filme, die heute an jedem zweiten Sonntag durch mindestens drei Regionalsender genudelt werden und die Sie natürlich alle kennen, weil Sie mit Fernsehen aufgewachsen sind, ich hingegen machte anhand dieser Produktionen meine ersten Erfahrungen mit dem Medium Film, das mich selbst an den Tassen in meinem Schrank zweifeln ließ und später ebenfalls zu starken Suchterscheinungen führte. Zunächst führte es allerdings direkt in die Gewalttätigkeit.
Meine Freundin Gerda nämlich war auch im Kino gewesen. Auf dem Heimweg nach der Schule sagte sie: Dieser Winnetou im Kino, das ist gar nicht der richtige Winnetou. Ich verstand nicht. Ich verstand schon nicht, wie der Winnetou aus dem Buch, der eigentlich ich war, bei uns ins Vorstadtkino geraten war, aber daß es nicht der richtige Winnetou wäre, das kam nicht in Frage, obwohl er, das hatte ich gesehen, eine andere Frisur hatte als im Buch. Jetzt aber kam Gerda und sagte, es sei ein Mann, der nur so täte, als sei er Winnetou, und ein Indianer sei er schon gar nicht, sondern ein Franzose; und das war zu viel. Ich schlug zu. Es hatte etwas mit Indianerehre zu tun und mit der Verwirrung über diverse Identitäten, unter anderem meine eigene.
Die zerfiel nämlich nicht nur in das private B und das väterlicherseits gestiftete Familien-V, sondern eben dieses V war in sich selbst nicht ganz kohärent, sondern schwerst geschieden. Der eine Teil saß in jener Hälfte von Deutschland, die wir verlassen hatten und die dadurch für uns unbetretbar geworden war, wollten wir nicht verhaftet oder erschossen werden. Mit dem anderen Teil, über den nur sehr wenige, allerdings sehr dunkle Geschichten mehr angedeutet als erzählt wurden, verband mich ein belgischer Paß. Die dunklen Geschichten, die immer meine Mutter, niemals mein Vater, kolportierte, handelten von einem erstgeborenen Sohn von kaum vierzehn Jahren, den seine Mutter plötzlich in einem flämischen Ort zurückgelassen hatte, als sie mitten im Krieg mit dem spätgeborenen zweiten Sohn aus dem Land weggegangen war, noch dazu nach Deutschland. In den Geschichten kamen ebenfalls Falschgeld und Gefängnisaufenthalte vor und außerdem das Wort Nazis sowie die beiden Buchstaben SA, die ich damals noch nicht entziffern konnte.
Ich war acht Jahre, als ich diesen geheimnisvollen Teil meiner Familie und also mein Vaterland zum ersten und einzigen Mal sah. Von diesem Besuch ist mir eine Befangenheit dem Onkel gegenüber erinnerlich, dagegen eine überschwängliche Liebe zur Tante und den Kindern sowie dem Collie und überhaupt dem ganzen Land, in dem es Pommes Frites gab, soviel man wollte, in dem Kinder morgens schon Kaffee trinken durften und – einem Werbeplakat zufolge, das überall an den Straßenrändern hing – wo der König, den es hier gab wie im Märchen, ein Bier namens Stella Artois trank, das ich kannte, weil es in der Kneipe meiner V-Familie am Meer abends auch von den Hafenarbeitern getrunken wurde. Sprachlich und rechtschreiblich waren diese Flamen ein bißchen schräg, fand ich, aber im großen und ganzen hatte man sich nach ein paar Tagen in ihren Dialekt eingehört und –gelesen; es lag ja auf der Hand, daß „de koning“ nur der König sein konnte, der sympathischerweise das selbe Bier trank wie seine Untertanen, auch wenn das Trinken hier mit einem „d“ begann. Dennoch war der König der deutschen Sprache etwas anderes als der koning der flämischen. Den einen gab es nämlich nicht mehr. Den hier schon. Er trank sogar Bier. „Lesen ist wie übersetzen“ heißt ein Vortrag des Philosophen Hans-Georg Gadamer, der interessanterweise mit dem aus dem Italienischen übersetzten Zitat anfängt: „Jede Übersetzung ist wie ein Verrat“. So weit war ich noch nicht, aber die erste hermeneutische Grunderfahrung hatte ich mit dem König und dem koning und der Unmöglichkeit der vollkommenen Übersetzung gemacht, die mich später in ihren Bann ziehen würde.
Einstweilen war ich sinnlos stolz darauf, dem Paß nach Belgierin zu sein, wohl wissend, daß ich es eigentlich nicht so ganz richtig war. Aber wenn es doch im Paß stand.
Wir schreiben das Jahr 1966. Karl May ist weitgehend ausgelesen. Die Bücherei auch. Wir ziehen um. Mein Vater beginnt einen steilen beruflichen Aufstieg. Die neue Bücherei ist unergiebig. Ich habe nichts zu lesen. Dafür komme ich ins Gymnasium. Ich mache mich über die Bücher her, die bei meinen Eltern im Bücherschrank stehen: als erstes Lionel Feuchtwanger, den Sie höchstwahrscheinlich nicht gelesen haben, weil er im Westen nie sehr populär war, im Osten dagegen ein Erfolgsautor, und den Osten gibt es ja nicht mehr. Also einmal alles von Feuchtwanger, der erste jüdische Autor meiner Lese-Karriere. Und der erste, bei dem ich weinte. Das war „Die Jüdin von Toledo“.
Ich ahne, daß die Kreuzzüge etwas mit den Nazis zu tun haben müssen, weil es da auch gegen die Juden ging. Nach dem Gesamtwerk von Feuchtwanger weiß ich es und habe, ohne zu merken wie und ohne es noch sagen zu können, in etwa die Rolle verstanden, die der historische Roman im zwanzigsten Jahrhundert gespielt hat.
Ich sehe die Parallele zwischen den dunklen Kreuzzügen und den ebenfalls dunklen Jahren des dritten Reiches auch deshalb, weil die so weit weg sind, daß keiner mehr Genaues darüber zu wissen scheint. In der Schule stellen die Jungen Spekulationen über die SS und verschiedene Panzer- und Bombertypen an, und wenn Sie – vermutlich – in Ihren Schulen mindestens drei- oder viermal wieder von vorne „Das dritte Reich“ auf dem Unterrichtsplan hatten, dann können Sie sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, daß zwanzig Jahre nach dem Krieg ein junger Mensch nur sehr lückenhaft darüber in Kenntnis war, aber natürlich wissen Sie, daß zwei Jahre nach 1966 genau diese Verschleierung der jüngsten Geschichte, die Lückenhaftigkeit des Sprechens und vor allem die dunklen Flecken in der Erinnerung zu den Motiven gehörten, warum junge Leute – älter als ich allemal – auf die Barrikaden gingen.
Ich jedenfalls war aus der ganzen undurchsichtigen Sache schön raus. Ich las Feuchtwanger, mein Vater war viel zu jung, um Soldat gewesen zu sein, er hatte sich nach dem Krieg Fußbälle aus alten Schuhen gebastelt, und außerdem waren wir Belgier.
Es ist nicht nur die sprachliche, das heißt die muttersprachliche, sondern auch die nationale, die Identität des Vaters, des Reisepasses, was ins Lesen einfließt, und die Idylle meiner ausländischen V-Zugehörigkeit wurde am 22. März abrupt beendet. Ohne uns zu fragen oder uns dazu weitere Angaben zu machen, hatte mein Vater wohl aus Gründen seines beruflichen Fortkommens seine und damit unsere deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten. Er hatte seinen Chef eingeladen, und sie feierten dieses Ereignis mit Sekt
Ich trat durch diesen brutalen Akt in den deutschen Schuldraum ein, ob ich es wollte oder nicht, ob mein Vater Soldat gewesen war oder nicht. Ich lernte, was ein symbolischer Zusammenhang ist, wiederum ohne dafür die Wörter zu kennen.
Feuchtwangers Bücher wurden, während ich sie nun weiter las, zu etwas anderem.
Die nächsten sechs Jahre meines Lebens sind von Teilamnesie befallen, aus der mir auch ein paar Urlaubsfotos nicht weiterhelfen. Storm und Fontane kamen darin vor, Heinrich Mann, dann Thomas, die Entdeckung der Lyrik, die Entdeckung, daß Gedichte noch schöner werden, wenn man sie mit der Hand in ein eigens dafür besorgtes Buch schreibt, wobei dieses Buch aus Protest gegen den westdeutschen Paß aus ostdeutschem Papier bestand, später benutzte ich schweizerisches und französisches.
Dann griff ich in den Teil des Schranks, wo die Bücher standen, die nicht beiden Eltern, sondern ausschließlich meinem Vater gehörten. Ich las, ihn innerlich Deskartes nennend, Descartes und entdeckte das „Ich denke, also bin ich“. Wie denken geht, interessierte mich. Ich hatte schon sehr früh versucht, wie es geht, nichts zu denken, und ich hatte festgestellt, daß man, wenn man sich vornimmt, nichts zu denken, einfach nicht nichts denken kann, und ich wußte auch, daß es Gedanken gibt, die einem unangenehm sind, und ausgerechnet die kriegt man nicht weg: Scham zum Beispiel ließ die ihr zugehörigen Gedanken und Denkbilder geradezu wuchern. Ich fand diesen Deskartes ein bißchen ungenau, aber vielleicht war der ja in der Lage seine Gedanken aktiv in den Kopf zu bringen, ich jedenfalls wußte von mir, daß nicht ich es war, was dachte, sondern in mir dachte es einfach. Mit dem Rest der „Philosophischen Prinzipien“ im übrigen ging es mir genauso wie Gadamer, der offenbar viel zu früh Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen hatte und später sagte, es sei damals „nicht der geringste verstandene Gedanke herausgeschlüpft“. Anstatt aber mich Büchern zuzuwenden, bei denen vielleicht ein verstandener Gedanke herausschlüpfen könnte, wiederholte ich das Erlebnis umgehend mit Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Am Ende wußte ich zwar nicht, was drinstand, ich war aber – rein technisch – auf die – Sie hören die Anführungszeichen – hermetische Lyrik vorbereitet, die mich später fesseln würde.
Eine weitere gute Voraussetzung für meine Neigung zur sogenannt „hermetischen“ Literatur war mit Sicherheit die Agonie, von der die nun gesamtdeutsche V-Familie befallen wurde und die nach langem Siechtum erst tödlich endete, während der flämische Teil sich abrupt mit dem Tod der Mutter auflöste, der einen längeren Gefängnisaufenthalt des Vaters zur Folge hatte.
In diese Jahre fällt ein Ereignis, von dem ich nicht zögere, es eine Lese-Erfahrung zu nennen. Meine Eltern schickten mich zum Französischlernen in die Schweiz. Ich bestieg den Zug in Frankfurt, studierte das deutsch-französische Wörterbuch, das dafür angeschafft worden war, stieg im deutschen Bern um, und war, als ich im französischen Yverdon ankam, immer noch bei „a“.
Schon auf dem Bahnsteig wurde mir klar, daß es sich hier anders als mit dem flämischen „koning“ verhielt. Hier redeten sie mich an, und es schlüpfte nicht der geringste verstandene Sinn heraus.
Und nicht nur das: Hier gab es am Abend keine Brote mit Aufschnitt, sondern warmes Essen, und den Käse, der anschließend auf einer großen Platte auf den Tisch kam, legten sie sich nicht scheibenweise aufs Brot, sondern jeder konnte sich von den Käselaibern ein Kuchenstückchen abschneiden und auf seinem Teller seine eigene Käseplatte anrichten. Während des Essens waren alle lebhaft, jeder redete, und wer redete, dem hörten die anderen zu, es ging oft, und das war leicht zu verstehen, um Vietnam, es ging auch, und für dieses Wort brauchte ich sehr sehr lange, um die Etasüni, bei denen nun wirklich niemand darauf kommen kann, daß ein so lustiges kleinen Wörtchen, das geradezu drollig daher kommt mit dem i-Hüpfer am Schluß, so etwas Gravitätisches und auch gravitätisch Klingendes sein kann wie die Vereinigten Staaten. Auch hier in der Schweiz, das wurde rasch klar, gab es einen Gefängnisfall, und zwar weil der älteste Sohn sich wegen eben dieser unbegreiflichen, nicht zu decodierenden Etasüni weigerte, seinen Wehrdienst zu leisten. Sein Vater hatte eine stirnrunzelnde Haltung zu diesem Entschluß, die Mutter eine eher fürsorgliche, die Verlobte war flammend auf der Seite des Freigängers, und es wurden mit Ausdauer und Geduld immer wieder Gespräche geführt, während alle stundenlang bei ausgezeichnetem Essen und einer Flasche Fendant oder Dole um den Tisch saßen oder sonntags in verschiedene Restaurants fuhren, um dort weiter und wieder miteinander zu essen und zu sprechen. Von dieser Reise brachte ich ein kostbares Geschenk mit, das ich bis heute, Doris Lessing möge es mir verzeihen, das „Goldene Buch“ nenne, weil es das erste Goldschnitt-Buch war, das ich je gesehen habe, allerdings hieß es „Rot und Schwarz“, und meine Empfindlichkeit gegen meinen Reisepaß ließ mich sofort die drei Farben zusammendenken, aber Stendhal hatte es auf französisch geschrieben. Gleich im Zug wollte ich mich an die Lektüre machen, um die freundliche Gegenwart der Schweizer Familie noch ein Stück mitzunehmen, auch ein paar Käse hatte ich im Gepäck, aber kaum schlug ich das Buch auf, stellte sich heraus, was ich schon ahnte, nämlich daß Schrift alles andere ist als die Abbildung von Stimme auf Papier. Wenn ich deutsch las, las ich immer „mit Stimme“, manchmal auch laut, aber vor allem innerlich mit Stimme, und gern hätte ich die französischen Stimmen, deren Melodie ich in den letzten Wochen, und zwar rein akustisch, in Bedeutung zu übersetzen gelernt hatte, jetzt innerlich vorlesen lassen, aber Stendhal schrieb einfach nicht so, wie die schweizerischen Franzosen sprachen. Es standen zwar in diesem Buch keine Etasüni, aber auch wenn sie drin gestanden hätten, hätte ich sie in den beiden Wörtern Etats Unis schwerlich erkennen können.
Daß es auch in der eigenen Sprache eine gewaltige Anstrengung sein würde, dem, was man schriftlich zu Papier bringt, einen Atem und das Vermögen mitzugeben, im Leser eine Stimme zu evozieren, war mir natürlich nicht bewußt, aber ich hatte intuitiv etwas über die Musikalität gesprochener Sprache gelernt, über Gesang.
Die Gesangsproblematik traf mich im übrigen auf ganz andere Weise und recht herb in Gestalt eines Stimmbruchs, der meiner Karriere im Kinderchor beim Hessischen Rundfunk ein abruptes und schmerzhaftes Ende setzte, indem er meinen Sopran in einen krächzigen Bariton umschlagen ließ, der sich erst später wieder in eine recht tiefe, aber immerhin weibliche Stimme verwandeln wollte.
Das Medium Mund, das der Sitz der Stimme ist, und zwar der singenden, der sprechenden wie der lesenden, hat bekanntlich eine andere lebenswichtige Aufgabe, und hier hören Sie, daß der Frage „to read or not to read“ eine andere nicht nur phonetisch verwandt ist: unter Weglassung des „R“ kommt man auf die ebenfalls existentielle Frage „to eat or not to eat“. Womit ich sagen will: Je mehr ich las, desto weniger war ich an den abendlichen Broten mit Käseaufschnitt interessiert, aber vielleicht war es auch andersherum: Je weniger mir die Brote schmeckten, um so mehr fraß ich Literatur. Ich aß nicht, ich las ja. Dünn sein war im übrigen „in“, seit das gerade mal fünfzehnjährige Supermodel Twiggy in Jahr 1966 zum Schönheitsideal schlechthin geworden war, ein Strich in der Landschaft mit melancholischem Gesicht und traurigen Riesenaugen.
Meinerseits fünfzehnjährig, trat ich noch einmal in dieser Zeit eine Reise an, die – anders als die zur Routine gewordenen familiären Neckermann-Urlaube – etwas Besonderes war und mir einen Text schenkte, wobei ich mir diesen Text diesmal zunächst leihweise aus dem Regal nahm, und leise nach nächtlicher Lektüre auch wieder hineinstellte. Die Mutter meines Freundes, mit dessen Familie ich nach Südfrankreich fahren durfte, sammelte Objekte der Jugendstil-Künstler Lalique und Gallé, und zwar nicht in Vitrinen, sondern zum Gebrauch, sie füllte die Schalen mit Obst und stellte die kostbaren Vasen mit einem selbst gepflückten Strauß Sumpfdotterblumen einfach so auf den Tisch. Das Bibliothekszimmer, in dem ich übernachtete, war üppig im Jugendstil dekoriert und illuminiert.
Der Zustimmung zu dieser Reise waren etliche Verhandlungen vorausgegangen, ein Katalog mit Anstandsregeln war den beiden Minderjährigen eingebleut worden, die hatten natürlich genickt und sich ihres dabei gedacht. Etwas knisterte vor dieser Reise, und ich konnte vor Aufregung in dem Bibliothekszimmer nicht einschlafen, wanderte die unbekannten Bücherreihen entlang und griff mit unerklärlicher Sicherheit den Band 1 der eigentlich unauffälligen weißen französischen Ausgabe eines Autors heraus, den ich nicht kannte.
„Longtemps je me suis couché de bonne heure“ fing der Roman an, und in dieser Nacht fing mit der Reise nach Südfrankreich noch eine andere, viel längere Reise an. Nichts ist mir leichter gewesen, als später die literaturtheoretische Auffassung nachzuvollziehen, daß Lesen nicht nur durch den historischen und biographischen Raum eines Autors bestimmt wird, sondern durch den des Lesers ebenso, denn ich war ganz wörtlich in einem besonderen historischen und biographischen Raum, als Marcel Proust mich in seinen Bann zog mit der einleitenden Mitteilung, daß er lange Zeit früh zu Bett gegangen sei.
Im Jahr 1972 wurde das deutsche Fernsehen bunt. Und Farbe geriet auch in meine Lektüre, die zwar besessen, wahl- und zügellos gewesen war, aber übrig geblieben waren mehr oder weniger nur noch die Schatten von Keller, Hebbels, Mörike, Storm und all den anderen.
Das würde sich ändern, denn Lesen will gelernt sein, und bisher hatte die Schule nichts Entscheidendes dazu beigetragen: Inhaltsangabe, Erörterung, „Was will der Dichter uns sagen?“, und dann bitte der nächste Text. Wieder genauso.
Direkt von der Uni kam in der 10. Klasse eine neue Lehrerin. An anderer Stelle habe ich sie einmal als Hexe bezeichnet.
Im Zuge von 68 hatten sich die Umgangsformen und Anforderungen gelockert. Wir rechneten mit Fraternisierung.
Das war ein großartiger Irrtum.
„Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an:
So hörte sich das gleich am Anfang schon an und wurde eine Einführung in die Rhetorik, die sich gewaschen hatte.
Heute steht die Rede des Mark Anton aus Shakespeares „Julius Caesar“ auf dem Lehrplan der elften Klasse. und es wäre zu schön, wenn die Lehrer, die sie unterrichten, damit so zaubern könnten wie Ulrike Ladnar.
Ich jedenfalls hatte bis dahin nicht gewußt, daß man Texte nicht einfach so in sich reinliest, und fertig, sondern daß es ein Nachdenken darüber gibt, wie sie gemacht sind. Grammatik war das eine, sie war mir durch Glück zugefallen, aber Rhetorik, Stilmittel, Stilfiguren, Tropen – hier ging eine Welt auf, und wenn Sie sich bisher möglicherweise noch nicht damit beschäftigt haben, lassen Sie sich – vielleicht auch warnend – sagen, wie das ist: Das ist wie Achterbahn fahren. Sollten Sie abenteuerlustig sein, einen stabilen Magen haben und nicht allzu viel Zuckerwatte darin, haben Sie ein schwindelerregendes Erlebnis vor sich, ansonsten seien Sie vorsichtig damit, dann dreht sich Ihnen alles vor den Augen, und Ihnen rutscht der Boden unter den Füßen weg. „Ironie oder nicht Ironie“ ist eine hinterhältige Frage in der Rede des Mark Anton. Eine Entdeckung kam gleich hinterher, denn die Rhetorik tat von Anfang an nicht so, als ob sie eine Angelegenheit zwischen wohlwollenden, friedliebenden Menschen wäre, sondern nach dem Mord an Caesar war das eine knallharte Machtgeschichte. Das war nicht nur Manipulation. Das war Demagogie, und da ging es um Herrschaft.
Die klassischen Metaphern, Metonymien und Synekdochen und vor allem auch die gar nicht mehr klassischen würden später die Protagonisten meines Examens sein, mein besessener Umgang mit Antonomasien, Hyperbeln und Metalepsen würde meiner Umgebung die Hypothese aufdrängen, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank. Vorerst hingegen kann ich meine Begeisterung für den neuen Sprachraum der Sprachanalyse und -reflexion nachlesen in dem vergilbten Heft aus ostdeutschem Papier, in das ich meine Aufsätze schrieb. Es ging um die „Begegnung mit Kohlhaas“ von Günter Grass. Ich elaboriere sechs Seiten. Darunter steht mit Rot: Im ganzen ansprechend. Stilistisch besser als die letzte Arbeit. Die inhaltliche Auseinandersetzung fehlt. Zwei plus.
Ich schließe daraus: Wo kein Inhalt, da zwar keine Eins, aber immerhin eine Zwei plus.
Wir lesen Texte über Texte, wir fangen an, Fragen an die Texte zu richten, ich lese zu Hause abends unter der Bettdecke, ich fange an zu spinnen – ich rede mit toten Dichtern, und das Erschreckendste ist: Die reden mit mir. Die Sprache quillt über, platzt aus den Nähten. Zum Glück redet auch Frau Ladnar mit mir. „Birgit, vermeiden Sie bitte die Fülle Ihrer kompositorischen Neuschöpfungen“ steht unter einer Arbeit. Beim nächsten mal ist von „stilistischen Entgleisungen wie eben den Neuschöpfungen sowie von Schachtelsätzen“ die Rede, und danach wird es noch einmal ärger: „Gewisse sprachliche Besonderheiten, die wir schon öfter besprochen haben, haben sich verstärkt und führen leider nun auch zu einer inhaltlichen Konsequenz. Hinzugekommen sind zahlreiche sprachliche und inhaltliche Wiederholungen“ etc.
Dann folgt noch eine ganze Seite in Rot, sie endet betrübt: „ ... kann ich mich aus den angeführten Gründen nicht dazu entschließen, die Arbeit mit ‚Sehr gut’ zu beurteilen.“
In den folgenden Jahren scheinen wir beide uns an das „redundant“ am Rand oder das „Birgit: Neologismen“ gewöhnt zu haben.
In den folgenden Jahren auch zeichnete sich ab, daß demnächst eine Vaterstelle in meinem Leben neu zu besetzen sein würde. Das klingt heute etwas roh, war aber Anfang der siebziger Jahre keineswegs ungewöhnlich, sondern eher ein Massenphänomen. Schon 1963 hatte Alexander Mitscherlich die westliche Welt „auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft“ gesehen, und es begann allseits eine ziemliche Suche nach dem verschwundenen oder entschwindenden V. Das Phänomen war im übrigen nicht neu. Gadamers Schreibstörungen beim Verfassen seiner Habilitation zum Beispiel erklärte er selbst damit, daß ihm während des Schreibens sei, als schaute sein bewunderter Mentor Martin Heidegger ihm immer über die Schulter. Neu war um 68, daß der „Mentor“, den es schließlich seit der Antike gab, auf einmal umbenannt wurde in „Vaterersatz“. Er wurde psychologisiert. Einiges wurde psychologisiert, und so ergab es sich quasi im Ansteckungsvorgang, daß ich auf den Vater dieses Virus neugierig war. Der Begegnung mit ihm ging eine Straftat meinerseits voran: Während einer Klassenfahrt klaute ich wahllos etliche seiner Bücher aus dem Drehregal einer Buchhandlung in Miltenberg und fand mich kurz darauf wieder im Österreich des Fin de siècle, das ich von Arthur Schnitzler kannte, und genau so las ich diese Bücher auch: Wie Romane. Es ist außerordentlich schade, daß heute kein Mensch mehr Sigmund Freud liest, seit die Gehirnforschung sein Terrain besetzt hat; ganz nebenbei hat sie einen großen Literaten gleich mit erledigt.
Nicht erledigt hat sich bis heute, was er anhand seiner Träume in jahrelanger Selbstbeobachtung herausgefunden hat und was für die Weiterentwicklung der Rhetorik von außerordentlicher Bedeutung war. Träume nämlich (und nicht nur die, sondern das gesamte Unbewußte eines Menschen) tun etwas, was die Sprache auch tut: sie verdichten, und sie verschieben und helfen so bei der Verarbeitung von Erlebtem. Die Verdichtung, so erzählt Freud sehr anschaulich, geschieht, indem der Träumer beispielsweise die verschiedenen Züge der Personen A, B und C nimmt und sie alle in eine fiktive Traumfigur D hineinträumt, also durch D ersetzt. Das kennt jeder. Die Verschiebung hingegen geschieht, indem etwas dem Träumenden Wichtiges aus seiner vielleicht unangenehmen Wichtigkeit weggedreht oder von der Person, mit der es verbunden ist abgelöst und auf eine andere gelenkt wird. Eine listige Verschiebung ist es auch, daß der Traum völlig unwichtige Details aufbauscht, um sicherzustellen, daß der unangenehm wichtige Teil auch ganz bestimmt nicht erkannt wird, weil er bloß als Nebensache erscheint.
Daß die Metapher, die Ver-Dichtung eine rhetorische Figur der Lyrik, also der Dichtung ist – wir werden über eine Ausnahme sprechen – sieht man schon am Wort.
Wie die Verschiebung, die Freud im Traum aufgefallen ist, in der Sprache funktioniert, nämlich metonymisch, kann ich Ihnen an meiner eigenen Vorlesung heute zeigen: Sie erinnern sich, daß ich sie mit meiner Lektüre der „Kinder von Bullerbü“ begonnen und Ihnen von der Milchkanne und der Zentrifugalkraft erzählt habe, die man vor der Erfindung des Tetrapack beim Milchholen ausprobieren konnte und die mir daher als der Fleischwurstgeschichte so benachbart vorkommt, daß ich sie automatisch, also unbewußt, in die „Kinder von Bullerbü“ hineinlese. Und dies genau ist ein Verschiebungsvorgang: Eine Abdrängung in die Nachbarschaft, die man, um Leute zu beeindrucken, auch mit ihrem lateinischen Namen nennen kann, da heißt sie dann Kontiguität.
Eine weitere Verschiebung, die nicht so leicht zu entdecken ist, ist mir an der selben Stelle allerdings ganz unbewußt passiert, und als ich gesehen habe, was mir da unterlaufen ist, habe ich es einfach stehen gelassen, um Ihnen vorzuführen, daß rhetorische Figuren etwas enorm Aufregendes sind. Ich habe nämlich aus meiner Erinnerung von einem Ring „Fleischwurst von der feinsten“ gesprochen, war mir aber nicht sicher, ob es im Text „von der feinsten“ oder „von der besten“ heißt, habe meinen Sohn um sein Exemplar der „Kinder von Bullerbü“ gebeten und zu meiner Verblüffung entdeckt, daß es sich bei dem Wurstprodukt, das die Kinder beim Einkaufen mehrmals vergessen, obwohl sie es dauernd vor sich hingesungen haben, gar nicht um Fleischwurst, sondern um Bratwurst handelt, das ganze vergessene Ding ist kein Ring Fleischwurst von der feinsten, sondern ein Ring Bratwurst von der besten, die ich verschoben habe, und zwar aus ihrer mir fremden Umgebung - ich kenne keine ringförmige Bratwurst – in eine mir vertraute – ich kenne ringförmige Wurst nur als Fleischwurst, und in den sechziger Jahren aß man keine besten Delikatessen sondern feinste Delikatessen. Dieses Abrutschen, ein horizontales Weggleiten in die Nachbarschaft, ob bewußt oder unbewußt, ist so schön, daß ich Ihnen gleich noch eine Anekdote aus dem Jahrzehnt erzähle, in dem Sie geboren sein dürften: Es sind die achtziger Jahre, ich arbeite als Sekretärin im „Institut für Sozialforschung“, das längst nicht mehr Sitz der Frankfurter Schule, sondern eine Stätte für empirische Industriesoziologie geworden ist, was mich tief enttäuscht, aber ich kann sehr schnell tippen, so auch das zum Buchdruck bestimmte Forschungsprojekt über „Neue Technologien und alternative Arbeitsgestaltung“, bei dem es über die Auswirkung des Computereinsatzes auf diejenigen industriellen Arbeitsplätze ging, die heute infolge desselben und in Ermangelung von Alternativen längst weg sind. Das war allen klar, aber so traurig es war, es mußte getippt werden, es wurden menschenleere Hallen erwähnt, in denen nur noch ein einzelner Facharbeiter an einem Apparat sitzt, ferngesteuerte Maschinen, die Geisterschichten bei VW, Tabellen über Tabellen, das Elend des sterbenden Industriezeitalters quält sich über 400 Seiten oder mehr in ödestem Soziologenjargon der späten siebziger, frühen achtziger Jahre dem Ende entgegen, wird schließlich fertig, erscheint beim Campus Verlag, tröpfelt in irgendwelche Bibliotheken, in denen es beinah spur- und folgenlos versickert wäre, wenn nicht eines Tages ein der Stimme nach alter Mann angerufen und diejenige Person hätte sprechen wollen, die für die Umsetzung der Manuskripte – damals noch auf Schreibmaschine – verantwortlich war. Mir wurde bang, aber ich war geständig. Der alte Mann sagte sehr höflich und mit unüberhörbarer innerer Belustigung, junge Frau, Sie haben mir ein außergewöhnliches Lesevergnügen bereitet. Dann erzählte er, daß ich jede einzelne der triste Geisterschichten, von denen in diesem Buch die Rede war, beim Abtippen in eine Geister-ge-schichte verwandelt hatte, und keine dieser sehr vielen Geistergeschichten war von der Vertipperin selbst oder von den vier korrekturlesenden Autoren bemerkt und enttarnt worden, was natürlich selbst eine kleine Geistergeschichte der Metonymie ist, die sich in diesem Fall als Freudscher Verschreiber unsichtbar zwischen die Seiten geschoben hatte.
Es liegt auf der Hand, daß Sinnverfremdungen, wissentliche, unwissentliche, keinesfalls immer so niedlich sind wie die, die ich hier erzähle, und deshalb will ich Ihnen von einem anderen Wahlvater berichten, den Ulrike Ladnar uns eigentlich in der Absicht anbot, ihn sogleich wieder zu demontieren, was aber bei mir nur zur Hälfte geklappt hat.
Wir wurden mit der Lehre vom Verstehen bekannt gemacht, die der Romantiker Friedrich Schleiermacher entworfen hatte, und gingen sodann zu der über, die Hans-Georg Gadamer 1960 unter dem Titel „Wahrheit und Methode“ veröffentlicht hatte.
Ich verstand – ohne natürlich einen Zusammenhang mit Freud zu sehen – im wesentlichen, worauf ich Sie am Anfang dieses Vortrags hingewiesen habe, daß nämlich keine „objektive“ Lektüre möglich ist, sondern Lesen immer von den Erfahrungen des Lesenden geprägt sein wird, was insofern eine traurige Erkenntnis war, als ich die „Brüder Karamasov“ oder „Anna Karenina“ leider nie würde verstehen können, da ich in einem Haushalt mit Strom, fließendem Wasser und Telefon lebte.
Indes: Gadamer gab mir dann eine gewisse Hoffnung, indem er den hermeneutischen Zirkel erklärte, der etwa so ging, daß ich zwar zwangsläufig mit einem bestimmten jetztzeit-verhafteten Vorwissen im Kopf, also voller „Vorurteile“, an die Lektüre der Klassiker heranginge, daß aber meine geduldige und neugierige Befragung der Texte mich dazu bringen könnte, derart mit ihnen ins Gespräch zu kommen, daß sich mein Vorwissen durch das Gelesene verändern und weiterentwickeln würde, und mit meinen durchs Lesen verwandelten Vorurteilen könnte ich mich erneut und mit einem größeren Erkenntnisgewinn an die Lektüre machen, die dann wiederum mein Vorwissen weiter beeinflussen würde und so weiter und so fort.
Das ist vollkommen einleuchtend, denn selbst wenn Sie noch nie in einem Heuschober übernachtet haben, wissen Sie nach der Lektüre der „Kinder von Bullerbü“ zuverlässig, daß es ein sehr kluger Mensch gewesen sein muß, der das mit den Betten erfunden hat, und sehen sowohl Ihr Bett als auch den Umstand, daß Heu-Übernachtungen inklusive der dazugehörigen Gespensterfurcht in Ihrem Leben nicht vorgekommen sind, fortan mit anderen Augen, und schon beim nächsten Mal, wenn Sie in dem Buch lesen, wird der Heuschober, den Sie sich geistig längst angeeignet haben, nicht mehr derselbe sein, weil Sie jetzt wissen, daß in einer fernen Vergangenheit Kinder mit wohligem Grusel darin übernachteten.
Noch einmal mit Gadamer gesagt, weil ihm die Tradition wichtig war: Ein Leser kann nur in solche vergangenen Räume eintreten, zu denen seine Gegenwart noch die Schlüssel besitzt. Das gilt, darauf hat er allerdings nicht geachtet, eben weil es ihm um die Tradition und die Anbindung an Tradition ging, nicht nur für Zeit-Räume. Ohne Schlüssel ist jeder Raum zu und muß es auch bleiben.
Andersherum, kommt Gadamer zu dem Schluß, ist es natürlich dann so, daß ein Autor, wenn er einen Text schreibt, seinerseits den Vorurteilen seiner Epoche verhaftet ist, ob er will oder nicht, und in seiner Zeit kann das niemand erkennen, weil ja alle zu seiner Zeit diesen Vorurteilen verhaftet sind, aber wenn Sie sich jetzt in einer zeitlichen Distanz dazu befinden und die Vorurteile der fernen Epoche nicht teilen, weil Sie von anderen befallen sind, können Sie das Gelesene besser verstehen, als es in der fernen Epoche und sogar vom Autor selbst verstanden wurde, weil der Autor ja Dinge in den Text hineingeschrieben hat, die er selbst gar nicht wußte.
Hier kommen wir zu einem Satz, der mich fortan beschäftigte und der in seiner Kurzfassung heißt: Jeder Text weiß mehr als sein Autor. Später wird dieser Satz den Autor oder den Sprecher gar nicht mehr enthalten, sondern noch kürzer werden: Die Sprache spricht.
Genau in dem Moment, als ich das ungefähr begriffen hatte, holte unsere Deutschlehrerin zum Gegenschlag aus, den ich Ihnen hier aus historischen Gründen nicht im einzelnen vorführen möchte, weil darin das Wort „Ideologiekritik“ vorkommt, das als ein wichtiges Schlagwort zum politischen „Vorwissen“ der siebziger Jahre, also einer sehr fernen Epoche, aber in seiner damaligen Verwendung vermutlich nicht zu Ihrem gehört.
Wesentlich bei Gadamer war die Einführung eines – hier zeitlichen – Abstands zwischen dem Lesenden und dem Text. Die Abstandserfahrung als solche nun hat Gadamer auch deshalb so sehr beschäftigt, weil er seine eigene Erkenntnis zwar lesend, aber – unter Heideggers strengem Blick – lieber nicht so sehr schreibend, sondern in der Form des Gesprächs verwirklichen mochte und auch deshalb eine große Zuneigung zu Plato hatte, dem Vater des philosophischen Gesprächs.
Lassen wir Gadamer zur Sprache kommen:
„Wo einer imstande ist, sich etwas sagen zu lassen, wo er den Anspruch des anderen gelten läßt, ohne ihn im vorhinein zu verstehen und damit zu begrenzen, gewinnt er an echter Selbsterkenntnis. ... Nicht im souveränen Verstehen also liegt die echte Erweiterung unseres in die Enge des Erlebens gebannten Ichs, sondern im Begegnen des Unverständlichen.“
Gadamers Bereitschaft, die Distanz zum Anderen zu achten und sich mit ihm ins Gespräch zu setzen, ohne einen Standpunkt zu beziehen und auf ihm zu bestehen, auch wenn ihm in manchem Gespräch völlig Unverständliches begegnete (1987 war ich Zeuge eines solchen Gesprächs), machte ihn zu einem der wenigen großen Humanisten des letzten Jahrhunderts. Er trifft sich in dieser rückhaltlosen Bereitschaft zum Gespräch teilweise mit einem anderen großen Humanisten, dem Philosophen Emmanuel Lévinas.
Vorerst will ich Ihnen vorführen, wo und wie er mit seiner hermeneutischen Idee scheiterte, eben weil er sich Abstand nur als zeit-räumlichen dachte.
Uns allen ist seit der Shakespeare-Rede des Mark Anton klar, daß Gespräche keinesfalls immer den Zweck haben, in aufrichtiger Anerkennung des Anderen und mit ihm gemeinsam Erkenntnis zu fördern, sondern daß in der Regel handfeste Standpunkte bezogen werden, daß es mangels geduldiger Neugier nicht zur Korrektur der eigenen Vorurteile, sondern zum häufigen Fehl- und Mißverstehen kommt, und auch daß gesprächsweise um Macht gerungen wird, kennen wir alle. Bei der Interpretation eines Textes ist das nicht anders.
„Wer bin ich und wer bist du?“, unter diesem Titel erschien 1986 ein Aufsatz von Hans-Georg Gadamer, es handelt sich, wie der Untertitel sagt, um einen Kommentar zu Paul Celans Gedichtzyklus „Atemkristall“. Paul Celan war seit sechzehn Jahren tot. Von Celan war nicht so viel wie heute, aber doch einiges bekannt, etwa die Besonderheit seine Arbeitsweise, etliche Schreib-Anlässe und Teile seiner Aufzeichnungen. Auch konnte man sich darüber klar sein, daß der in der Bukowina geborene und in Paris lebende Lyriker keineswegs, wie es bis heute in den Schulbüchern steht, „Poesie nach Auschwitz“, sondern „Poesie angesichts der Zäsur von Auschwitz“ geschrieben hatte, und dies schon früh in dem Bewußtsein, daß man im Land seiner Muttersprache alles tat und alles tun würde, um das Andauern dieses schneidenden Datums (es ist in Celans Gedichten immer wieder der September des Kriegsbeginns, aber auch der 20. Januar der Wannseekonferenz, auf der die Judenvernichtung beschlossen wurde), daß man also alles tat und tun würde, um das Datum zu überlesen, das den radikalen Bruch seiner Arbeiten mit jeglicher poetischer und poetologischer Tradition bedeutete.
Celan selbst hat immer wieder gesagt, daß er nicht ver-dichtete, er haßte alles Metaphorische, weil es sich so bequem dazu anbietet, etwas durch etwas anderes zu ersetzen, um dieses erste Etwas nicht benennen zu müssen. Metaphern waren ihm Falschgeld.
In konsequenter Nichtbeachtung dieses nachdrücklichen Hinweises auf eine rhetorische Entscheidung, die der Autor sehr bewußt getroffen hat, wurden Celans Gedichte von der gesamten nicht-jüdischen Nachkriegsgermanistik mit metaphorischen Bedeutungen nach Belieben aufgefüllt und voll gelesen, daß es in den Aufsätzen nur so waberte.
Dies alles weiß Gadamer 1986 sehr wahrscheinlich, weil er die französische Celan-Forschung kennt. Er wendet seine hermeneutische Methode an. Er ist gesprächsbereit. Er spürt, daß die Gedichte von Celan nicht unbedingt mit ihm sprechen. Er begegnet Unverständlichem. Er erörtert Celans Abneigung gegen die Metapher mit Hegel, spürt wohl, daß sie da nicht herkommt, sondern woanders, beharrt aber darauf, nicht zu wissen, wo sie herkommt, stellt ein gewisses eigenes Ungenügen fest und besteht jetzt nicht nur auf seinem Ungenügen, sondern rät sogar allen künftigen Celan-Lesern, hermeneutisch konsequent nach seinem Konzept des Vorwissens und Vor-Urteils, ihrerseits auch auf ihrem Ungenügen zu bestehen, und obwohl er selbst es für riskant hält, „ohne jede Information besonderer Art einen Zyklus Celanscher Gedichte auszulegen“, kommt er zu folgenden Überlegungen:
„Ich wiederhole die Wendung ‚besonderer Art’, denn an sich ist die Informationsmasse, die ein jeder Leser von sich aus mitbringt, in vielfacher Hinsicht bereits ‚besondert’. Der eine hat etwas noch erlebt, was der andere nur aus Büchern kennt. Der eine kennt etwa den deutsch-slawischen Osten oder gar den jüdischen Kult oder auch die kabbalistische Mystik, der andere muß sich daraus vielleicht aus dem Lexikon orientieren oder durch mühsame Lektüre. Ebenso steht es mit dem gegenwörtlichen Bezug auf schon Gesagtes. Der eine hat George und Rilke und Dichtung so im Ohr, wie vielleicht der Dichter – der andere nicht. Der eine kennt einen vom Dichter gebrauchten Fachausdruck aus seinem eigenen Sprachgebrauch, der andere muß ihn mühsam zur Kenntnis nehmen. Solche Besonderungen sind stets im Spiel.“
An dieser Stelle überspringe ich einen Satz, der in der Celan-Forschung wichtig und umstritten ist, hier aber zu weit führen würde, und komme zu Gadamers Schlußfolgerung aus all den jeweiligen „Besonderungen“. Für ihn nämlich ist es so, „daß ein jeder Leser in das durch den Sprachgestus Heraufbeschworene wie auf ein Angebot einzugehen vermag. Was ein jeder Leser an dem Gedicht wahrzunehmen vermag, hat er aus seiner eigenen Erfahrung aufzufüllen. Das erst heißt: ein Gedicht verstehen.“
Ich nehme an, daß Sie die antikisierende Formulierung „jüdischer Kult“ hat aufhorchen lassen, weil Sie mit dem Wort „Kult“ alle möglichen Handlungsweisen verbinden, die in die exotischeren Gebiete des Fachbereichs Ethnologie fallen. Gadamer meint hier den jüdischen Gottesdienst. Seiner Methode folgend möchte ich den Text aber fragen, warum da nicht Gottesdienst steht, sondern Kult, also ein Wort, das nur unter anderem Gottesdienst, des weiteren aber beispielsweise auch Idolatrie oder Schamanismus und noch sehr vieles anderes bedeuten kann; zur Zeit der Entstehung dieses Aufsatzes konnte es zum Beispiel, auch wenn Gadamer das vielleicht nicht wußte, längst auch bedeuten: Obsession für Filme wie Rocky Horror Picture Show und überhaupt für schlechten Geschmack.
Entscheidend aber, und nicht nur bedenklich, sondern unstatthaft ist, daß Gadamer den Leser ausdrücklich dazu ermächtigt, das, was er wahrnimmt, „aufzufüllen“.
Dies ist, ich sagte es, genau, was die nicht-jüdische deutsche Literaturkritik hemmungslos an Celans Texten getan hat. Sie hat sich seiner Lyrik bemächtigt, um etwas ins „Hermetische, Dunkle, Unverständliche, Wirklichkeitsverschlossene“ zu entschärfen, was, wie der Autor immer wieder sagte, „ganz und gar nicht hermetisch, nicht dunkel, nicht unverständlich, nicht der Wirklichkeit verschlossen ist“.
Paul Celan, der sehr klug war, kannte alle Theorien, die man aufbieten würde, um nicht Wort für Wort, jedes Wort für sich, lesen zu müssen, was er, in Paris lebend, nicht von irgendeinem „Hier“ der Bundesrepublik, sondern von einem anderen „Dort“ her schrieb, in der Sprache und von der Seite seiner toten Mutter her und von der Seite der anderen Ermordeten ohne Grab.
Vor Jahren habe ich einmal eine Bemerkung gelesen, die sich mir alsbald eingeprägt hat. Goethe, dem die junge Verehrerin Bettina von Arnim allmählich ziemlich lästig wird, notiert sich, sie sei eine „Anempfinderin“, was sofort jedes Interesse an ihrer Person bei mir ausgelöscht hat.
Das von Gadamer empfohlene „Auffüllen“ seiner Gedichte mit ihnen ganz und gar fremden Erfahrungen kannte Celan; es ist nur eine Variante dessen, was für ihn „das bunte Gerede des Anerlebten“ war.
Wie Sie bemerkt haben, sind wir nun längst nicht mehr in „Bullerbü“.
Auch die folgende Geschichte, mit der Ulrike Ladnar eines Tages ankam, spielt nicht dort, obwohl in dieser Geschichte ebenfalls noch mit Holz geheizt wird. In meinem eigenen Haushalt übrigens auch, weshalb mir die Geschichte und ihr Autor oft durch den Kopf gehen. Wir gehen in die Zeit der Brüder Grimm.
„Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater: "Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen, damit ihr nicht friert. Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch.“
In vielen Märchen wird Holz gesammelt und Feuer angemacht. Holz war die Energiequelle für die Bevölkerung.
1821 jedoch wurde in Preußen ein Holzdiebstahlgesetz erlassen, das die Bevölkerung, vor allem die arme, gewaltig in Not brachte. Die Zahlen von 1850 belegen, daß in diesem Jahr 300.000 Diebstähle begangen wurden. 265.000 davon waren Holzklau, wobei man unter Klauen schon das Aufsammeln von sogenanntem Raffholz, also Reisig verstand.
Dieses Gesetz nun, unter anderen, empörte einen jungen Juristen und Journalisten, der in der Rheinischen Zeitung über die Debatten des Holzdiebstahlgesetzes im Rheinischen Landtag berichtete.
Karl Marx ergriff anläßlich dieser Debatten erstmals Partei für die Interessen der besitzlosen Armen und machte sich auf, in den kommenden Jahren eine politische Ökonomie zu entwickeln, die sich mit dem Geld, mit der Frage, was ist eine Ware, wem gehört sie, wie wird sie hergestellt, wer hat was davon, ist das gerecht, und was, wenn es das nicht ist, kann man dagegen tun, beschäftigte. Seit dem Ende des Industriezeitalters, vor allem aber seit 1989 sind die MEW, wie sie früher hießen, die Marx-Engels-Werke praktisch tabu und werden so wenig gelesen wie Werke jener Autoren, die in ihrer Nachfolge Zweifel unter die Leute gebracht haben, ob die Welt der kapitalistischen Produktionsform tatsächlich die beste aller denkbaren Welten sei, und die über mögliche bessere Formen nachdenken.
Der Frankfurter Schule, die dies in ungewöhnlich radikaler und schmerzhafter Weise getan hat, konnte ich aus zwei Kilometern Luftlinie, noch aus Frau Ladnars Klassenzimmer, dabei zusehen, wie sie nach dem Tod ihrer Gründer Theodor Wiesengrund Adorno und Max Horkheimer schon Anfang der siebziger Jahre im allgemeinen Gewirr, auch sprachlichen Gewirr junger Revolutionäre unterging, die einen raschen politischen Sieg gegen „Staat und herrschende Klassen“ vor Augen hatten, wogegen die Lektüre sehr schwieriger und dazu noch durch und durch pessimistischer, gar kulturpessimistischer Gedanken einiger jüdischer Vorkriegs- und Exil-Philosophen einfach nicht attraktiv war. Nicht attraktiv und nicht einfach.
Als ich bei der Vorbereitung dieser Vorlesung im Netz nach Wirkungsspuren der Frankfurter Schule im Bewußtsein dieses Landes suchte, begegnete mir ein Kommentar in einem Blog, den ich Ihnen hier wiedergebe: „Mal ehrlich, die “alte Frankfurter Schule” war auch nicht mehr zeitgemäss, im Zeitalter des mangelnden Textverständnisses ist es klar, dass keiner mehr Adorno liest. Zu dick und zu viele Fremdwörter. Auch der nötige Background (Freud, Marx) dürfte heute wohl kaum noch bei jemandem vorhanden sein.“
Nee, muß man dem Autor wahrscheinlich zustimmen. Ist nicht mehr. Wär’ aber gar nicht schlecht, das mit dem Textverständnis und wie die das gemeint haben, daß ‚die vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils strahlt’, so redet doch keiner mehr, und überhaupt, was die sich gedacht haben mit der Aufklärung und ihrer Dialektik. Im Grunde auch wieder so ein alter Hut, muß irgendwas zu tun haben mit dem Voltaire und dem Diderot und der französischen Revolution.
Meine erste Ausgabe der „Ästhetischen Theorie“ war nach einigen Jahren so zuschanden gelesen und vollgekritzelt, daß ich mir eine neue kaufte, um auch die mit neuen Zeichen meiner Leseübungen vollschreiben zu können, weil Adornos Sprache nicht nur komplex ist, sondern vor allem und mit Bedacht alles andere als geschmeidig und eingängig. Außerdem hatte er den einen oder anderen stilistischen Tic, was ein paar Jahre nach seinem Tod zur Gründung der „Titanic“, einem legendären Satire-Magazin in Frankfurt geführt hat, vermutlich weil einige seiner ehemaligen Schüler sich unter der immer auch moralischen Wucht ihres Mentors – Vaterersatzes – nach dessen Tod nicht anders als parodistisch zu helfen wußten und den Vorwurf des revolutionären Kommunisten Georg Lukacs kannten, daß die Gründer der Frankfurter Schule es sich „im Grand Hotel Abgrund“ gemütlich machten und dort vom Balkon aus den Untergang des Abendlandes betrachteten, statt ihn zu verhindern.
Anders als Adorno, war Walter Benjamin zur Parodie denkbar ungeeignet. Einmal deshalb, weil er schon seit 1940 tot war: Selbstmord auf der Flucht durch die Pyrenäen; aber wohl auch deshalb, weil seine Arbeiten nur „irgendwie“ zu denen der Frankfurter Schule paßten, weshalb es heute heißt, er war der Frankfurter Schule „verbunden“. Benjamin beschäftigte die Allegorie. Allegorie ist als rhetorischer Tropus der Metapher verwandt, allerdings ein Sonderfall, weil sich in ihr etwas nicht zu etwas anderem verdichtet, sondern zu jemandem personifiziert. Über meinem Schreibtisch hängt Dürers „Melencolia“, und vor dem Römer in Frankfurt steht die blinde Justitia, sie sind Beispiele, die aus dem Barock stammen. Und Benjamin, ebenfalls vom Barock ausgehend, nämlich vom barocken Trauerspiel, war Allegoriker, das heißt, er war einer, der Allegorien aufspürte und zu deuten verstand. Bei Baudelaire zum Beispiel, überhaupt im 19. Jahrhundert; Benjamin war der Archäologe der Moderne bis zu Proust, und später habe ich festgestellt, daß seine Entwicklung der Allegorie der Moderne immer wieder auch mit der Frage zu tun hatte: Was ist männlich, und was ist weiblich?
Genau diese Frage beschäftigte wunderbarerweise nicht nur Walter Benjamin und Sigmund Freud, sondern die ganze Epoche des sogenannten Fin de siècle außerordentlich. Prostituierte, Lesben, Bisexuelle, schöne Leichen, Medusen oder Engel sind die Heldinnen der Moderne, in der, während sie dergestalt zur Kunst gemacht wurden, erstmals leibhaftige Frauen nicht nur die Künstler sondern eigentlich alle Männer erschreckten, indem sie, von der Arbeiterbewegung inspiriert, auf die Straße gingen und als Suffragetten für ihr Wahlrecht, ihr Recht auf Bildung, auf Universitätszulassung, auf eine Stimme in einer Männerkultur zu kämpfen, aus der sie bis dahin ausgeschlossen waren.
Im Zuge von 1968 fiel einer Menge Frauen auf, daß es zwar seit 1918 ein Frauenwahlrecht gab, die Sache zwischen Männern und Frauen aber immer noch nicht ideal lief.
„Nehmen Sie Stellung zur Berufstätigkeit der Frau“ steht über einer Klassenarbeit aus dem Jahr 1972, in der ich heute meine trockene Feststellung lese, daß man allmählich beginne, der Frau einen gewissen Intellekt zuzugestehen. Das Thema interessierte mich. Nicht unbedingt wegen der Berufstätigkeit und der barbusigen Feministinnen. Ich war noch immer ein Strich in der Landschaft.
Auch später, als ich selbst kochte und inzwischen um die fünfzig Kilo wog, interessierte es mich weiter, und zwar so sehr, daß ich eine Arbeit über Androgynie schrieb. Über Androgynie und Ästhetizismus.
Und jetzt gehen wir bereits zügig auf das Ende meiner akademischen Karriere zu, die ich übrigens mit einem klugen Rat meiner Deutschlehrerin begann. Birgit, sagte sie, wenn Sie schon Germanistik studieren, dann tun Sie mir einen Gefallen. Belegen Sie nie eine Vorlesung oder ein Seminar, in denen irgend ein Autor behandelt wird, den Sie lieben und weiter lesen wollen. Das geht schief.“ Das hieß für mich vor allem: Bloß kein Seminar zu Kafka, schon gar keines zu Celan.
Ansonsten war das Studium eine Freßorgie. Ich hatte das Gefühl, in einem Selbstbedienungsladen zu sein.
Die Frankfurter Schule war tot und in Sponti-Frankfurt zu einer Fußnote geworden. Aus Frankreich kamen neue Stimmen, aber die wurden in Deutschland, besonders in Frankfurt, dem ehemaligen Sitz dieser anstrengenden Fußnote, nicht so recht zur Kenntnis genommen. Ich las zunächst einmal – die Beschäftigung mit Rhetorik macht neugierig – die klassichen Strukturalisten, Saussure, Roman Jakobson, Roland Barthes, Levi-Strauss, von da kommt man zu Foucault, Lacan, Devereux, Deleuze, Guattari, und ich entdeckte Jacques Derrida. Mit dieser Lektüre befand man sich in den siebziger Jahren nicht unbedingt im kriminellen, wohl aber in einem sehr zwielichtigen Milieu und machte sich allseits verdächtig: dieser ganze französische Kram, so befand, mit wenigen Ausnahmen, die deutsche Philologie, dieser Dekonstruktivismus oder wie das heißt, das dekadente Reden vom Ende der Geschichte, Posthistoire, Poststrukturalismus, das sind doch, seien wir mal ehrlich, alles Scharlatane, Wortzauberer, Sinnverdunkler, die jonglieren mit Wörtern gegen irgend so einen Logozentrismus herum, man kriegt nie so ganz mit, was sie denn nun wirklich meinen mit ihrer Extra-Vieldeutigkeit und Nicht-Identitäten; am Ende ist man ganz dusselig und weiß nicht mehr, ob man Männlein oder Weiblein ist.
Tatsächlich liegt der Verrat, ein unvermeidlicher im übrigen, hier in der Übersetzung, weil die Dekonstruktivisten mit etwas in der französischen Sprache Geläufigem arbeiten, mit lautlichen Sinnverschiebungen, die man nicht in die dafür weitaus weniger empfängliche deutsche Sprache übertragen kann. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Am vergangenen Wahlsonntag kommentierte ein Moderator die Stimmung in den Vororten folgendermaßen: Es herrsche Sorge vor Zwischenfällen („incidents“), nämlich Brandanschlägen („incendies“). Solche Wort- und Buchstabendrehungen werden im gewichtigen, auf feste Setzungen bedachten Deutschen gern dem Gag, dem Kalauer oder dem Werbespot zugerechnet, in der sehr viel flüssigeren französischen Sprache sind sie nicht anrüchig.
Genau so, das fiel mir rasch auf, oder jedenfalls so ähnlich, wie ich Derrida las, hatte ich Benjamin gelesen, wie er Proust gelesen hatte, und Derrida hatte Mallarmé gelesen, den ich las und den auch die Philosophin Julia Kristeva gelesen hatte, die ich las. Ich geriet in ein ungeheuer aufregendes Labyrinth aus Weiblichkeit, Allegorie, Geschichte, Utopie und Subversion; alles um mich herum sprach mit mir, ich sprach mit allen, ich entdeckte, daß es eine Sprache gibt, in der Metaphern plötzlich dominant vor dir in die Höhe ragen und in derselben Bewegung des Hochragens metonymisch angeschubst werden können, dann lösen sie sich auf und fließen einfach dahin, ein horizontales Weggleiten des senkrecht angelegten Symbols in die Bedeutungsflucht, ich entdeckte, daß das Weibliche nicht nur eine Hosenrolle in der männlichen Welt, sondern eine eigene Rolle spielen konnte, mitten in der Sprache, durch die Sprache, durch eine andere Sprache, und das ungefähr schrieb ich in meine Examensarbeit, die wohl mit 38 Seiten eine der kürzesten in der Geschichte der Philologie an der Frankfurter Uni gewesen sein dürfte.
Hier kommen wir zu dem Punkt, an dem der wilde Ritt durch die Geistesgeschichte, ich brauche diesmal gar keine Buchstaben hinzuzufügen, sondern nur einen einzigen zu verändern, wieder einmal in eine Geistergeschichte mündete.
Mein V-Problem nämlich, da hatte meine leidenschaftliche Suche mir nicht viel weitergeholfen, war ganz einfach deshalb nicht zu lösen gewesen, weil die Großen, an die ich mich lesend-fragend-bittend gewandt hatte, entweder Juden waren, und ich hatte gelernt, das Wahrgenommene auf gar keinen Fall aus „eigener Erfahrung“ aufzufüllen und etwa Verwandtschaft anzuerleben oder anzuempfinden, wo aus Gründen des 20. Jahrhunderts Abstand geboten war. Oder es war der mir immer noch unangenehme deutsche Paß, was mir eine Adoption unmöglich machte.
Das war der Moment, in dem ein Wiedergänger in mein Lese-Leben trat, kurz nach dem Höhepunkt meines intellektuellen Treibens als Doktorandin.
Im Winter 1987 fand in Heidelberg ein Gespräch zwischen Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida statt. Die beiden hatten schon einmal miteinander gesprochen, in Paris, Jahre vorher, und was da stattgefunden hatte, ist in die Geschichte der Philosophie als das „unwahrscheinliche Gespräch“ eingegangen, worauf Derrida anspielte, als er seine Rede zur Beerdigung Gadamers „das ununterbrochene Gespräch“ überschrieb. Alle, die in Paris dabei waren, berichteten jedenfalls, daß es ein verunglücktes Gespräch gewesen sei, weil Derrida den viel älteren Gadamer mit drei unbotmäßigen Fragen buchstäblich in Frage gestellt hatte, und danach haben sich beide eine ziemliche Weile lang nicht gesehen, aber die Begegnung hat ihnen keine Ruhe gelassen. Bis eben 1987 in Heidelberg. Ich borgte mir ein Auto und fuhr hin. Beide hatten, so empfand ich es, je einen Adjutanten dabei, alles deutete auf ein deutsch-französisches Duell. Was dann aber folgte und mich für Stunden die Zeit vergessen ließ, war der Gipfel an Miteinander-Sprechen, vielmehr an Gemeinsam-ums-Gespräch-Ringen zweier so verschiedener wie charismatischer großer Männer, in die ich mich augenblicklich, in alle beide, verliebte. Der ältere von unerschütterlicher Geduld und Güte, der jüngere unübertroffen brillant und zu gleichen Teilen streng wie sehr zart. Mein Begriff von „Zivilität“ ist bis heute von jenem Abend geprägt, an dem Derrida – so glaube ich heute – den Namen seines Freundes Paul de Man erwähnte, der 1983 gestorben war.
Ganz zweifelsfrei stand für mich fest, daß Derridas Freunde auch meine Freunde sein würden, jedenfalls im Geist.
Im anschließenden Semester besuchte ich ein Doktorandenkolloquium bei Samuel Weber, Gastprofessor aus Amerika, Schüler von Paul de Man, der ebenfalls dort gelebt und gelehrt hatte. Ich war in Prousts „verlorene Zeit“ versunken. Ich dachte darüber nach, wer „ich“ ist, wenn Proust seinen Marcel „ich“ sagen läßt, und insbesondere, wer jenes „Ich“ ist, das im Buch immer wieder sagt: „plus tard, j’ai compris“ – später habe ich verstanden.
Paul de Mans Aufsatz zu Proust heißt: Reading. De Man ist ein faszinierender Leser. Er untersucht das zentrale Motiv von Schuld und Verrat, das bei Proust stets ums Lesen und Schreiben kreist. Ethik und Rhetorik. Er weist den Gedanken zurück, es würde da einen ursächlichen Zusammenhang geben in der Art, am Anfang stand die Schuld, und dann kam erst die Metapher. Es könnte auch umgekehrt gewesen sein, sagt de Man: Erst waren da die Metaphern, und damit er die verwenden konnte, mußte Proust sich für schuldig erklären. Ich habe Ihnen diese rhetorische Figur vorhin schon einmal angeboten, Sie erinnern sich vielleicht: „Je mehr ich las, desto weniger war ich an den abendlichen Broten mit Käseaufschnitt interessiert, aber vielleicht war es auch anders herum: Je weniger mir die Brote schmeckten, um so mehr fraß ich Literatur. Die Verdrehung von Ursache und Wirkung ist nur eine Variante der Metalepse.
Die Metalepse in all ihren Varianten ist de Mans Lieblingstropus. Sie ist die unheimlichste aller rhetorischen Figuren. Sie kann sogar sehr unheimlich werden, wenn sie nämlich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion überschreitet. Wörtlich ist sie eine „Herübernahme“.
Nehmen Sie an, ich entwerfe eine literarische Figur. Sie heißt in diesem Fall Frau Choi. Ich lege Ihnen nah, zu vermuten, Frau Choi in der kleinen Stadt M** sei eine Giftmörderin. Es gibt allerdings keine Beweise. Die Frau operiert international mit einer nicht nachweisbaren Substanz. Ihre Opfer sind immer Männer, deren Frauen, Freundinnen oder Kolleginnen sich ihrer entledigen wollen und die – aufgrund der Gerüchte, die in Frauenkreisen kursieren – nach M** gefahren sind, um die merkwürdigen Kurse zu besuchen, die Frau Choi anbietet, und sich womöglich ihre Giftkunde anzueignen. Am Schluß spreche ich Sie, einen männlichen Leser, etwa folgendermaßen an: Wenn Sie denken, daß der Zulauf zu diesen Kursen in Zusammenhang steht mit den unklaren Todesfällen, die sich seit einiger Zeit in Ihrem Land ereignen, dann irren Sie sich gewaltig und machen sich nicht klar, was Sie eigentlich wissen könnten, denn wenn Sie morgen tot sind, wird Ihre Frau natürlich den Arzt rufen, den Sie vor kurzem wegen des Bluthochdrucks oder Ihrer Allergie gesehen haben. Der Arzt wird ... undsoweiter.
Ich deute also an, daß Sie, der wirkliche Leser, ein potentielles Mordopfer dieser Frau Choi sein könnten, womit ich meine Frau Choi über die Grenze der Fiktion ziehe und die Frage offen lasse, ob ich sie mir wirklich nur ausgedacht habe. Aus einem anderen Blickwinkel, nämlich Ihrem, sieht es so aus, daß ich Sie aus Ihrer Wirklichkeit herausreiße und in meine Fiktion hineinsetze, weshalb die Metalepse der Tropus der Virtualität, der Trueman-Show und des Second Life ist. Kleine Kinder, wenn sie ihre ersten metaleptischen Erlebnisse haben, fragen ihre Mutter ängstlich, ob sie vielleicht gar nicht leben, sondern nur träumen, daß sie leben.
Was Sie womöglich bei der Lektüre meiner Frau Choi nicht merken, ist, daß dieser Text, der gar keine Ich-Figur enthält, auch andersherum metaleptisch funktioniert, weil ich, die Autorin, nämlich gar nicht anders kann, als mein Erzählen mit Spuren meiner Wirklichkeit bewußt oder unbewußt zu kontaminieren, also ganz unabhängig davon, ob ich das will oder nicht, und gerade am Beispiel der Frau Choi kann ich Ihnen dafür ein unverdächtiges Indiz an die Hand geben, das mir erst beim Schreiben dieses Textes und bei meinen Internet-Recherchen zu Metalepse-Beispielen in der Literatur aufgefallen ist.
Es ist nämlich schon einmal ein Leser von einer fiktiven Figur ermordet worden. Ich hatte die Geschichte „Park ohne Ende“ von Julio Cortazar vor vielen Jahren gelesen und seitdem überhaupt nicht mehr darüber nachgedacht. Ganz offenbar muß sich mir die Beunruhigung, die dieser erzählerische Übergriff zu einer Zeit ausübte, als ich noch nichts über die Metalepse wußte, so stark eingeprägt haben, daß ich ihn selbst eines Tages – allerdings nicht auf Cortazars, sondern auf meine Weise – wiederholen mußte.
Es gibt also unvermeidlich eine doppelte Spiegelung zwischen Erzählung und Wirklichkeit; sie hat die Form einer Endlosschleife, weshalb ich eine große Liebe zu kreiselnden, also elliptischen Erzählbewegungen habe, die Frau Ladnar und so manchen anderen Leser zwar wegen der scheinbaren Wiederholungen nerven, die aber immerhin so fair sind, den Leser in die Schleife einzubeziehen, anstatt ihm vorzumachen, es gebe da zwei ordentlich voneinander geschiedene Ebenen.
Zurück zu Paul de Man, dessen Überlegungen zur Metalepse ihn zu der Schlußfolgerung führen, es könne kein autobiographisches Schreiben geben, da alles, was ein „Ich“ über sich sagt, ein Maskenspiel sei. Gleichzeitig, und das ist nur scheinbar paradox, ist alles, was einer überhaupt sagt und schreibt oder herstellt, egal ob Theorie, Prosa, Gedicht, Bild oder Film, zwangsläufig autobiographisch, was ich Ihnen am Beispiel von Frau Choi eben gezeigt habe.
Es war furios, das damals zu kapieren. Ich konnte sehr sehr schwere Wörter nicht nur aussprechen, ohne rot zu werden, sondern ich verstand sie auch.
In Paul de Man löste sich meine V-Geschichte endlich: da liefen Freud, Benjamin, Adorno, Gadamer, Lacan, Derrida rasant in ein „to read“ zusammen, und was die Sache perfekt machte: de Man war kein Deutscher und kein Jude, sondern idealerweise gebürtiger Flame.
Es war ein phantastischer Frühling, voll mit der Euphorie, die sich bei Erkenntnis immer einstellt, weshalb man nicht genug davon bekommen kann.
Und in diesen wunderbaren Frühling schlug die kleine, von der Öffentlichkeit kaum bemerkte Meldung ein, daß der große Rhetoriker Paul de Man zwischen 1940 und 1941 ein Jahr lang für zwei belgische Kollaborationszeitungen gearbeitet und dort Sätze geschrieben hatte wie den, daß es „den Juden trotz aller Bemühungen nicht gelungen sei, das europäische Denken zu korrumpieren“ oder daß „aus literarischen Gesichtspunkten nichts dagegen einzuwenden“ sei, „die Juden in Kolonien außerhalb von Europa zu isolieren“.
Da waren sie wieder, der 1940 von seiner Mutter zurückgelassene Vierzehnjährige und die beiden dunklen Buchstaben S.A., der deutsche Paß des 23. März 1966, und die bittere Bestätigung der von Paul de Man gewonnenen Einsicht, daß alles Lesen ein „misreading“ sein müsse und notwendig einen blinden Fleck enthalte. Es ist unzweifelhaft, daß er selbst diesen blinden Fleck nicht als Jugendsünde verbuchte, denn in seinem nach-belgischen second life, dem Professoren-Leben in Amerika, hat er selbst mit engen Freunden nicht davon gesprochen. Dafür, und nicht nur dort, in seinem Proust-Aufsatz. Ist die Ethik zuerst, und kommt die Rhetorik danach, oder folgt die Ethik der Rhetorik?
Das V meiner Geschichte verwandelte sich, und im selben Frühling noch beschloß ich, keines der sehr sehr schweren Wörter mehr in den Mund zu nehmen, die ich jahrelang in mich hineingefressen hatte. Mir war schwindelig. Mir war schlecht.
Im übrigen war ich natürlich nicht die einzige, die der Fall mitgenommen hat. Da war zunächst Jacques Derrida. Im folgenden Jahr erschien: Memoires. Für Paul de Man.
Der Schwede Lars Gustafsson schrieb „Die Sache mit dem Hund“.
Der Brite Gilbert Adair schrieb, bezugnehmend auf Roland Barthes, „Der Tod des Autors“.
Der Ire John Banville schrieb „Caliban“, einen Roman, dessen Hauptfigur den Namen Axel Vander trägt, weshalb ich ihn vorsichtshalber nicht gelesen habe.
Der amerikanische Maler Mark Tansey beschäftigte sich ab 1990 mit „dem Fall“ Paul de Man und seinen „Allegorien des Lesens“. Auf einem seiner Bilder balancieren Derrida und de Man auf einem Eckstein am Rande eines Abgrunds, als tanzten sie.
Hören Sie den letzten veröffentlichten Satz von Paul de Man. Er liest Kleists „Marionettenspiel“ und hat sich soeben mit der mechanischen Absehbarkeit der grammatikalischen Fälle beschäftigt.
„Aber Fälle“, so leitet er über zu etwas scheinbar anderem, „liegt im Deutschen sehr nah bei der Falle – und die Falle dürfte das letzte und äußerste Textmodell ... jedes Textes sein, die Falle einer (der) ästhetischen Erziehung, die unvermeidlich die Zerstückelung der Sprache mit der Anmut eines Tanzes verwechselt. Dieser Tanz, ob er nun als Spiegel, als Nachahmung, als Geschichte, als das Gefecht der Interpretation oder als ... Transformation von Tropen erscheint, ist die letzte Falle, ebenso unausweichlich wie tödlich.“
Und deshalb, und ich danke Ihnen für Ihre Geduld und daß Sie mir bei meinen verschlungenen Ausführungen über das „Ich“ und das Lesen gefolgt sind, würde ich Sie gern vor dem Rat warnen, der Ihnen alle paar Wochen im Kasernenhofton am Fernseher erteilt wird. Lesen !
Aber vielleicht, denn das Lesen hat, wie wir wissen, unglaublich an Bedeutung verloren, muß ich Sie gar nicht warnen und zucke nur wegen einer persönlichen Macke und aus alter Gewohnheit noch immer leise zusammen, wenn ich – ebenfalls aus dem Fernseher – höre, wie ein Mann, der soeben ein Buch gelesen hat, in das ich ein grünes Nilpferd hineingeschrieben habe, weil das ganze Buch auch vom „Grün“ erzählt, wie also der Mann, ein Literaturkritiker, zweifellos ohne zu wissen, was er da sagt, von diesem grünen Nilpferd sprechen will, und statt grünes Nilpferd sagt er blauer Elefant.