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Billiges Fleisch

Ein rassistisches Gerücht war: daß im chinesischen Restaurant in X Katzen im Essen wären.

Ein Klassengerücht war es, daß die Familie H. Gulasch mit Kitekat machen würde. Frau H. ging putzen, ihr Mann war aus der Fabrik rausgeflogen und mitten in den sechziger Jahren arbeitslos. Industrieproletariat.

Wir waren kein Industrieproletariat, sondern was Besseres, auch wenn wir aus dem Osten kamen, und also durfte niemand wissen, daß wir arm waren und was wir aßen.

In den sechziger Jahren aß man Schweinebraten.

Mein Vater ging so in den Puff wie meine Mutter zum Pferdemetzger.

An der Ecke paßten sie auf, daß niemand sie sah, und dann verschämt reingehuscht.

Daß wir im Kindergarten Papstwitze machten, störte sie nicht. Gotteslästerung überhaupt gehörte ins letzte Jahrhundert. Und das mit dem Puff ist ja dann im Laufe der Jahre und des Fortschritts der mitteleuropäischen Zivilisation standortmäßig eher nach Thailand und in die Fernsehwerbung fürs Telefonieren ausgelagert worden.

Bliebe der Pferdemetzger.

Pferdewurst war eins meiner Lieblingsessen. Es gab noch andere. Und ich durfte kein Sterbenswort davon sagen, wenn mir mein Leben und meine künftige Ehe mit einem höheren Angestellten lieb und teuer war.

Die Tabus machen bekanntlich nicht die armen Leute.

Das Interessante in Deutschland nun war nach dem Krieg, daß es keine reichen Leute zu geben schien, die in allen Gesellschaften traditionell für Tabus zuständig sind, sondern nur ein paar arme Chinesen, Putzfrauen und Ossis und im wesentlichen dann die Leute mit dem Schweinebraten. Es hing irgendwie mit dem Krieg zusammen, aber ich wußte nicht, wie. Im übrigen war Schweinebraten zwar nicht so billig wie das, was wir aßen, aber richtig teuer war er auch nicht. Weil er nicht richtig teuer war, hatten die Leute, die ihn aßen, immer ein bißchen Geld drüber. Von dem Geld kauften sie sich große Wagen und fuhren im Sommer damit nach Italien, wo sie den Italienern Schweinebraten beibrachten und dafür Nudeln mit Tomatensauce lernten, die auch nicht richtig teuer sind.

Ungefähr zu der Zeit machte unser Pferdemetzger pleite, weil selbst die armen Leute sich Nudeln mit Tomatensauce leisten konnten.

Es war die gerechte Strafe. Er hatte meine puritanische Mutter zur billigsten aller fleischlichen Sünden verführt. Dafür und für seine Pferdewurst hatte ich ihn geliebt. Wenn ich katholisch gewesen wäre, hätte ich beichten können. So aber war es der Sündenfall schlechthin, und ich war nicht zu retten.

Meine Mutter widerstand künftig jeder Versuchung. Als wir so weit waren, daß wir uns Schweinebraten leisten konnten, ging sie am Samstag persönlich und hoch erhobenen Hauptes zum Metzger. Für alle anderen Sachen schickte sie mich. Mein Vater hörte allmählich damit auf, rohe Rinderleber zu essen, und verbot meiner Mutter, uns Kindern Schweinehirn ins Rührei zu quirlen. Für mich kam das zu spät.

Tabus sind Verbote, die nicht mehr ausgesprochen zu werden brauchen, weil sie längst ins Innere der Menschen gewandert sind. Wenn man an den Tabus, sozusagen an den Innereien der Gesellschaft rührt, bekommt man es mit Peinlichkeit, Scham und Ekel zu tun. Ich hatte die Tabus sozusagen gefressen und fraß sie weiter. Jeder Metzger, den ich im Laufe meines Lebens hatte, wurde mir zum Komplizen, zum verschworenen Freund.

Während in den siebziger Jahren die tabugebenden Schichten Deutschlands anfingen, sich ihrer Schweinebraten zu schämen, nachdem die tabugebenden Schichten Nordamerikas technologisch so weit waren, die dort grassierende Fettsucht mit so vitaminreichem wie cholesterinarmem Kitekat bekämpfen zu können, entdeckte ich die Leihbücherei.

Tabus sind Verbote, für deren Durchsetzung man weder äußere Gewalt noch Zensur braucht, weil sie psychologisch funktionieren, und daher standen in der Leihbücherei, die mit ihrem begrenzten Etat nur selten die neue, vitaminreiche und cholesterinarme Lektüre anschaffen konnte, jede Menge schweinische Kochbücher unbehelligt herum, und keiner wollte sie lesen, weil Tabus eben psychologisch funktionieren.

In den siebziger und achziger Jahren wurde Deutschland allmählich kosmopolitisch, weil die Leute mit dem Ex-Schweinebraten endlich den Krieg vom Hals haben und im Urlaub von ihren großen Wagen auf Flugzeuge umsteigen wollten, nachdem standortmäßig die Puffs nach Thailand ausgelagert worden waren. Ich wurde auch kosmopolitisch. Durch die Leihbücherei. Wenn in der Metzgerei vor mir die alte Dame aus der Nachbarschaft dran war, die fünfzig Gramm Gelbwurst kaufte als billigen Vorwand, um sodann ihren Standardsatz sagen zu können: "Un gewwe Se mer noch e paar Kuttele fer de Hund", war mir zum Weinen zumute, und ich hätte sie beschwören mögen, doch wenigstens die schlichte slowakische Kuttelsuppe einmal auszuprobieren, wenn sie sich schon so aufwendige Gerichte wie savoyardischen Kalbskopf mit Kutteln nicht zutrauen mochte. Der Hund hätte stattdessen sein Kitekat für Hunde kriegen können. Hunde fressen bekanntlich alles, man braucht sie doch nicht mit Delikatessen zu füttern. Auch den Metzger machte die alte Dame immer ganz traurig, er blinzelte mir vielsagend zu, und wenn sie endlich draußen war und ihren Köter hinter sich her zu seinem Kuttelessen zerrte, sagte er oft wie zum Trost: „Wadde Se ma, isch hädd da ebbes ganz Besonneres fer Sie uffgehobe“. Dann hatte er mir vielleicht Lammnieren zurückgelegt, Stück für Stück gesammelt, bis es zu einem Spargelessen mit in Serranoschinken gewickelten, rosa gebratenen Nieren reichte, und wir beide halfen uns mit dem wunderbaren barbarischen Rezept über die Dame mit dem Hund hinweg, die zivilisationsmäßig auf der Höhe der Zeit war und ihrem Hund Delikatessen gab, während sie selbst ihr Kitekat für Menschen aus Dosen oder aus Tüten und zum Abendbrot fünfzig Gramm Gelbwurst aß.

Mein Metzger starb, sein Sohn übernahm den Laden, und da er kein Metzger war, sondern einen Vertrag mit einer Kitekatfirma für Menschen hatte, eliminierte er all die Schweineöhrchen, Lammbeuschel, Schwarten und Kalbsfüße von der Theke, die mir so lieb gewesen waren, und stellte dort Dosen mit Pastetenfüllung, Rindfleischsuppe und Frikassee aus, die vitaminreich und cholesterinarm, also praktisch vegetarisch und jedenfalls ohne Kalbsbries oder Markknochen hergestellt waren. Mittags lieferte die Kitekatfirma fertiges kosmopolitisches Essen an, und die Leute, die gerade nicht nach Thailand geflogen waren, kauften sich Chili con carne oder Nasi Goreng, Blumenkohlcurry mit Hühnerbruststreifen und Chop Suey ganz ohne Fleisch und Chinesen, also auch ohne Katzen, oder wenigstens eine salade nicoise, wenn sie schon nicht in Thailand waren.

Ich war untröstlich, fühlte mich heimatlos, und meine Gänge in die Leihbücherei waren einsamer als je zuvor. Eine Zeitlang ernährte ich mich von Fisch, bis ich eines Tages feststellte, daß ich die Dorade, die mich so mitleiderregend schleierig anstarrte, schon von der Vorwoche kannte.

Kurz darauf beging ich einen Tabubruch. Es war kein richtiges "coming out", aber eben ein Tabubruch. Ich betrat den türkischen Lebensmittelladen am oberen Ende der Straße, in dem nie deutsche Kunden waren, denn die Deutschen Ex-Schweinebraten-Esser waren zwar Kosmopoliten geworden, aber dazu brauchte man eben ein Flugzeug, und in den türkischen Lebensmittelladen hätte man zu Fuß reingehen können, das wäre nicht wirklich kosmopolitisch gewesen. Außerdem gab es dort nur türkisches Zeug, das man sich auch noch selbst kochen mußte, während in meiner Ex-Metzgerei immerhin mexikanische, indonesische, indische, französische und chinesische Küche fix und fertig geboten wurde, alles hygienisch einwandfrei in einem deutschen Vorort hergestellt und tagesfrisch angeliefert, und außerdem: Tabus brauchen überhaupt keine Begründung, sie sind eben einfach da. Der türkische Lebensmittelladen war auch da, und noch waren die türkischen Lebensmittelhändler nicht auf die Idee mit den einigermaßen kosmopolitischen Dönerständen gekommen, also war mir beim ersten Mal ein bißchen so zumute, wie vielleicht meiner Mutter früher, wenn sie zum Pferdemetzger gegangen war. Ich wurde fündig und kaufte die ersten Lammfüße meines Lebens. Sie kosteten genau, was in meiner Kindheit die Schweinefüße gekostet hatten, die in Erbsensuppe gehörten, bevor auch diese cholesterinfrei wurde bzw. von unserem Küchenzettel verschwand: 10 Pfennig pro Füßchen, und der türkische Metzger sah mich mit einer gewissen Achtung an, nachdem vorher alle im Laden mich mit begreiflichem Mißtrauen beobachtet hatten. In diesem Laden wurde ich heimisch, und die Zeit mit den Türken war schön, aber leider sehr kurz, weil im Laden daneben ein libanesisches Restaurant aufmachte. Durch die Leihbücherei war ich über arabische Küche im Bild, ging gleich am Eröffnungsabend hin und war der einzige deutsche Gast, weil auch dieses Restaurant zu Fuß zu betreten war und somit die damaligen Anforderungen an Kosmopolitismus nicht erfüllte und noch keiner an Ethno dachte wie dann in den neunziger Jahren. Ich ging noch sehr oft in dieses Restaurant und erwog, die arabische Sprache zu lernen, um das Rezept für den lauwarmen Linsensalat mit Lammzungen, -füßen und -hirn zu bekommen, das mir zu jener Zeit allerdings wenig genutzt hätte, weil das libanesische Restaurant für dieses phantastische Gericht meine eigene Quelle, den türkischen Lebensmittelladen, anzapfte und ich außer Nieren dort schlechterdings nichts mehr bekam. Als ich auf die Suche nach einem neuen Metzger ging, stellte ich fest, daß ich nirgends in meinem Viertel mehr etwas bekam, weil die Ex-Schweinefleisch-Esser und ihre Kinder durch ihre italienischen Eßgewohnheiten - Nudeln mit Tomatensauce - inzwischen so gespart hatten, daß sie einfach zu viel Geld hatten, selbst wenn sie sich jedes Jahr einen neuen Wagen und einen Flug leisteten, und so waren sie praktisch gezwungen, sich Wohnungen und Häuser zu kaufen. In meinem Viertel lebten in den siebziger Jahren noch viele Studenten und türkische Lebensmittelinhaber in den Ex-Wohnungen des verschwundenen Industrieproletariats, folglich waren die Wohnungen so billig, daß die Ex-Schweinefleischesser bzw. ihre Kinder sich zusätzlich zu ihren kosmopolitischen Reisen auch noch im Frühling oder im Herbst eine Italienreise leisten konnten, nachdem sie die Wohnungen und Häuser gekauft und an zahlungskräftigere Leute weitervermietet hatten, als dies Studenten und türkische Lebensmittelbesitzer waren. Und weil inzwischen die gesamte Adria, wo sie früher hingefahren waren, mit häßlichen Hotels verschandelt war, in denen es nichts als den vermaledeiten Schweinebraten zu essen gab, den sie den Italienern beigebracht hatten, kochten sie ihre Nudeln mit Tomatensauce inzwischen in der Toskana. Und auch ihre Mieter in unserem Viertel kochten sich nur noch Nudeln mit Tomatensoße, vermutlich weil die Mieten so allmählich so teuer wurden, daß sie sich nichts anderes leisten konnten, und irgendwann war es so weit: die Studenten verschwanden, die Türken verschwanden, die türkischen Lebensmittelläden verschwanden und mit ihnen das billige Fleisch.

Während meiner Suche nach einem neuen Metzger lernte ich Joseph kennen. Joseph hatte denselben leidenschaftlich-hungrigen Blick wie ich und streifte genauso verzweifelt durch die Stadt wie ich, und nachdem sich unsere Blicke einige Male in den Schaufenstern einer dieser neuen kosmopolitischen Metzgereien gekreuzt hatten, die plötzlich überall aus dem Boden schossen, sprach ich ihn schließlich an. Joseph war Koch in einem Hotel, was mich im Grunde nicht besonders interessiert hätte, wenn er nicht diesen österreichischen Akzent gehabt hätte. Durch die Leihbücherei wußte ich, daß Österreich zu den wirklich barbarischen Ländern in Mitteleuropa gehörte. Es stellte sich heraus, daß Joseph mir an Barbarei mindestens ebenbürtig, im Grunde aber weit überlegen war, weil er erst seit kurzem in Deutschland lebte und somit noch gar nicht recht wußte, daß er mit jedem Teller Lungenhaschee, das er aß, eine ekelerregende Tat beging. Nur: es gab nirgends mehr Lunge. Nicht einmal mehr für die Hunde. Fortan streunten wir gemeinsam durch die Stadt und suchten nach Metzgereien, die der Zeit widerstanden hatten, und wenn wir Glück hatten, war es das größte Glück: Joseph brachte mir wunderbare Sauereien bei mit so poetischen Namen wie Maischerln, Katzengeschrei, übrigens ganz ohne Katzenfleisch, und Speckfleck, oder ich kochte Lammbries mit Knödelblättern und Pilzen, und wir waren im siebten Himmel der Unanständigkeit, während draußen in der Welt die Versorgungslage immer schwieriger wurde und wir uns schließlich eingestehen mußten, daß wir schon seit Wochen nur mehr Rezepte ausgetauscht, aber mangels Rohstoffen keines mehr zubereitet hatten.

Irgendwann in den achtziger Jahren war es dann endgültig aus mit der Fleischeslust in Deutschland. Die Puffs wurden standortmäßig aus Thailand wieder abgezogen und in die Fernsehwerbung zum Telefonieren verlagert, weil das hygienisch ist und man telefonisch keine Geschlechtskrankheit kriegen kann. In Nordamerika hatte das vitaminreiche und cholesterinfreie Kitekat überhaupt nichts gegen die dort grassierende Fettsucht ausrichten können, und auch in Deutschland nahm die Fettsucht zu. Die Leute, die sich in meinem Viertel die Häuser gekauft hatten, um in aller Ruhe in der Toskana Nudeln mit Tomatensauce zu essen, waren davon so reich geworden, daß sie allmählich diejenigen waren, die für neue Tabus zu sorgen hatten. Sie beschlossen, der allgemeinen Volksverfettung mit den Mitteln der christlichen Religionen zu begegnen: Askese bei Wasser und Brot. Da Nudeln im weiteren Sinne ja auch aus Getreide bestehen, waren sie zu der Kur zugelassen. Gegen alles Tierische hingegen wurde zum energischen Triebverzicht aufgerufen, und zwar mit den klassischen Mitteln: Zuckerbrot und Peitsche. Das Zuckerbrot war die Aussicht auf umgehende Erlösung der Welt von dem Bösen. Die Peitsche war die Drohung mit frühem Tod durch Verzehr von verstrahltem, verseuchtem, verpestetem sowie blei-, quecksilber- und hormongefülltem und in tierquälerischen Kästen seuchengefährdet vor sich hin gammelnden und verendendem Fleisch. Papstwitze dagegen waren strengstens verboten. Die Aussicht auf nationales Massensterben tat ihre Wirkung: die Menschen lernten wieder, was die Erbsünde ist. Gelegentlich griffen sie zu Müsliriegeln und Joghurt, um bei ihrer kargen Wasser- und Brot-Diät nicht in Trübsal und Depressionen zu fallen. Selbst das Kitekat für Katzen enthielt künftig mehr und mehr Körner und hier und da ein farbenfrohes Stück Möhre, damit die Katzen nichts merkten; nachts schlich sich der eine oder andere fettsüchtige Bürger zum Kühlschrank und verschlang eine Ladung Blut- oder Leberwurst, und am nächsten Tag tat er, wie es sich gehört, Buße bei Vollkornknäcke und erhielt seine gerechte Strafe in Form von Verdauungsstörungen.

Joseph ging zurück nach Graz und machte dort ein Restaurant auf. Ich besuchte ihn zweimal und hatte ein glückliches Wochenende mit Kalbshirn und Rinderzunge, aber für Joseph war die Not, die uns in Deutschland zusammengeschweißt hatte, endgültig vorbei. Das Kapitel war für ihn abgeschlossen, meine Besuche erinnerten ihn bloß noch an schlimme Tage in der Fremde, und er mochte nicht mehr so gern daran denken. Ich fuhr nicht mehr hin.

Den Metzgern in unserem Viertel wurden nachts die Scheiben eingeschlagen, und sie gingen nach und nach alle pleite, wenn sie sich nicht auf die frugalen Menüs umgestellt hatten, die inzwischen in der kosmopolitischen Vorortfabrik hergestellt und fix und fertig angeliefert wurden: indische Grünkernbratlinge, chinesisches Ragout aus geräuchertem Sojabohnenquark, skandinavische Haferflockensuppe mit Luzernensprossen, japanische Sushirollen mit Gurkenbelag, Pizza mit Hoummus und Petersilie, von der man wahlweise annehmen konnte, daß sie italienisch oder tunesisch war.

Um die Zeit ungefähr erfand man das Wort "lecker".

Jedenfalls wendete man es von nun an auf jeglichen Nahrungsersatz an, und damit niemand auf die Idee kam, daß es Ersatz sein könnte, sagte man, es sei "bio". Jedenfalls war es lecker.

Das Problem nun war, daß die grassierende Fettsucht infolge dieser Diät nicht ab-, sondern im Gegenteil zunahm. Wer einmal gedämpfte Brotscheiben mit Spaghettibelag oder Teltower Rüben in Sojamehlsauce "manière Nostalgie" gegessen hat, weiß, warum. Bissen für Bissen wartet man tatsächlich nostalgisch auf den Geschmack, weil man sich vage erinnert, daß Lebensmittel irgendwann einmal nach etwas schmeckten, und wenn dann kein Geschmack kommt, beißt man wieder hinein und nochmal und nochmal, weil jeder mit Geschmacksorganen versehene Mensch nicht glauben kann, daß er hier etwas ißt, das nach gar nichts schmeckt. Von allem, was nach nichts schmeckt, ißt man mehr, als man eigentlich möchte, während man nach Kalbskopf mit Remouladensauce einfach befriedigt und also satt ist.

Das Schöne an Tabus ist, daß sie sich um Logik oder Statistik kein bißchen zu kümmern brauchen. Natürlich ist es lebensgefährlich, wenn Millionen Leute mit ihren großen Wagen alle zugleich mit 150 Stundenkilometern nach Italien fahren, weil dort die Nudeln mit Tomatensauce schon warten, und dennoch schafft niemand die Wagen ab oder bleibt im Urlaub zu Hause, und natürlich ist es gesundheitsschädlich, dauernd Nudeln mit Tomatensauce zu essen, was schließlich kein Italiener tut, während es nicht so schwierig wäre, Blei und Quecksilber und Hormone und solches Zeug in Tiere nicht reinzulassen und die Käfige zu vergrößern, aber darum geht es natürlich nicht, weil: je besser ein Tabu funktionieren soll, umso schwachsinniger muß die Begründung klingen. Die fleischlosen Menschen nun wurden fetter und fetter. Sogar die Mädchen in der Fernsehwerbung, die fürs Telefonieren warben, hatten ungesund riesige Busen und sahen überhaupt aus wie von Rubens und Botticelli. Außerdem wurden alle krank und bleich und allergisch und kriegten Heuschnupfen und mitten im Sommer Grippe und liefen folglich das halbe Jahr nicht nur mit fetten Hintern und Bäuchen, sondern auch noch mit Rotznasen durch die Gegend, im Winter ja sowieso.

Ich nahm besorgniserregend ab, weil ich nichts zu essen kriegte, wenn ich im Restaurant bei kreolischen Kartoffeln saß, und um mich herum war jeder doppelt so viel wie ich; alle schneuzten andauernd während des Essens in ihre Taschentücher und redeten über Gebrechen und darüber, daß das Zeug auf dem Teller lecker wäre, bis mir schließlich kotzübel war, sobald ich nur ein Taschentuch sah und das Wort lecker bloß von weitem hörte.

Die ökologische Orthodoxie war natürlich nur ein paar Jahre durchzuhalten, aber die paar Jahre genügten, um endgültiges Vergessen über das Land zu breiten; und als dann die tabugebenden Nudelesser unser Viertel satt hatten, weil es ihnen dort nicht mehr schmeckte und ohne die hübschen schlanken Studentinnen von früher einfach zu unkosmopolitisch geworden war, gingen sie erst in die Landeshauptstädte, und später dann, als selbst die Studentinnen fettsüchtig waren, zogen sie weiter nach Brüssel.

Ich quälte mich noch eine Weile in der Diaspora, bis ich aufgab und das Land verließ, um fortan bei den Nachbarn in Frankreich tabufreie Pferdewurst essen zu können, so viel ich nur mochte.

Und dann passierte etwas Furchtbares: in den neunziger Jahren wurde in Brüssel die europäisch-kosmopolitische Einheitspute geschaffen, nachdem die Erinnerung an Rinder, Schweine, Lämmer langsam verblaßt war und medizinische Studien ergeben hatten, was man auf jeder Straße sehen konnte: daß es ganz ohne Fleisch nicht geht. Diese Pute wurde tatsächlich - ich nehme an, im Labor - regelrecht entwickelt, geschaffen, erfunden und zuletzet dann noch patentiert, denn vorher gab es sie nicht, und keine Leihbücherei der Welt hat sie je erwähnt, ganz einfach weil an Puten kulinarisch nichts ist, was erwähnenswert wäre.

Die Pute ist unter den fleischgebenden Tieren das, was unter den Adjektiven das Wort "lecker" und unter den Fernsehwerbungen die fürs Telefonieren mit Rubens und Botticelli ist: ekelhaft.

Die Pute sieht widerlich aus, schmeckt wie Styropor und wurde innerhalb kürzester Zeit epidemisch. Die Seuche fing in der Mitte Europas an, breitete sich mit Affengeschwindigkeit aus, und schließlich fiel sie sogar in die Länder am Rande Europas ein, in denen die Menschen noch nicht fettsüchtig waren, weil es dort noch richtiges billiges Fleisch gab und Puffs und Pferdemetzger, Kuttelsuppe und die Lust zu leben.

Und der Tag ist nicht fern, an dem es egal sein wird, ob beim Chinesen in X Katzen im Essen sind oder die Familie H. ihr Gulasch mit Kitekat macht, weil die chinesische Katze genauso schmeckt wie das Kitekat, das sie frißt. Ist überall Putenfleisch drin.

Lecker.

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