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Phone, No-Phone. Plädoyer für das erotische Verhängnis

"'Telefone, Telegrafen, Fonografen, Radiogeräte, Kinematografen, Laternae Magicae, Glossare, Fahrpläne, Handbücher, Bulletins ...'

Er bemerkte, daß für einen derartig ausgestatteten Menschen das Reisen überflüssig sei". (Borges 199)

Diese Bemerkung zählt nicht nur das bekannte (inzwischen überarbeitete) erotische Alltagsarsenal unseres Jahrhunderts auf (Briefe kommen aus dem letzten, Internet fällt ins nächste), sondern auch, wozu man es einsetzen kann, wenn man Gründe hat, das Verreisen, die Ekstase, zu scheuen: (die Gründe wechseln, augenblicklich scheint Seuchengefahr eine Rolle zu spielen, auch gibt es ernst zu nehmende Kritiker der Tourismusindustrie sowie jene, die mit Schrecken an die Tristesse denken, die einen bei der Heimkehr befällt) (Fußnote 1) - man kann es nämlich vorzüglich einsetzen, um - fast ohne physischen Energie-Einsatz - etwas herzustellen, zu genießen und schließlich zu erleiden, wofür einer der größten Erotiker dieses Jahrhunderts, Franz Kafka, noch nach Gmünd, ein anderer, ebenso verzweifelter, Walter Benjamin, sogar bis Moskau fuhr: das erotische Verhängnis (die aktualisierte, konsequent gottlose Nachfolgerin der ehemaligen Passion).

Völlig zu Recht steht bei Jorge Luis Borges unter den aufgezählten Medien das Telefon an erster Stelle - "es gilt unter wahren Libertins als allgemein anerkannt, daß die vom Gehör vermittelten Empfindungen die Sinne am stärksten reizen und die lebhaftesten Eindrücke hervorrufen" (de Sade 73); den Libertin des 18. Jahrhunderts allerdings unterscheidet vom Erotiker, daß es Schilderungen von Ausschweifungen und Exzessen sind, mit denen er auf akustischem Wege seine Sinne reizt, er will Erzähltes, und er wird es uns weitererzählen, bei Borges geht es sublimer zu: "Von Freitag früh an begann das Telefon mich nervös zu machen. Es empörte mich, daß dieses Instrument, das ehemals die unwiederbringliche Stimme von Beatriz hervorgebracht hatte, zum Behältnis der überflüssigen, vielleicht ergrimmten Anklagen dieses betrogenen Carlos Argentino Daneri herabgesunken war." Stimme pur, das Erzählte lief durch die Leitung in ein exklusives Ohr.

Der Telegraf, der zur Erleichterung jedes Reisefürchtigen heute Fax heißt (bedauerlich ist das Verschwinden des kurzfristigen Telegrafenfräuleins aus der erotischen Verwicklung sowie des überaus wichtigen, religions- und literaturgeschichtlich bedeutenden Postboten, der zuletzt nur noch in der Psychiatrie angetroffen werden wird), teilt mit dem Telefon zwar den strategisch eindringlichen Effekt der Synchronizität, allein: es fehlt "die geliebte Stimme" (Cocteaus Telefondrama, später dieser unerhörte Ein-Personen-Dialog-Film, nach dem man lebenslänglich Anna Magnani verehrt); der Fonograf wiederum - selbst in seiner verbesserten Fassung als Kassettenrekorder bzw. Walkman, schließlich sogar in seiner erweiterten als Magnetoscope - mag den Fetischisten erfreuen (ersetzt aber keinesfalls die Fotografie, was jeder weiß, der einmal versucht hat, den Bildschirm zu küssen), ist aber im Passionsfall nicht geeignet, das Verhängnis voranzubringen, dessen Gesetz in der Literatur traditionell anhand des Schachspiels dargestellt worden ist: gespielt wird, bis der Gegner matt ist. Selten patt. Noch seltener remis.

Daß das Kursbuch als Mittel zur Reisevereitelung nicht mit dem Telefon konkurrieren kann, liegt auf der Hand; wer aber die beiden wahrhaft entsetzlichen Briefe kennt, die Franz Kafka am 1. und 2. August 1920 an Milena Jesenska geschrieben hat, um nach dem Fahrplan ihr für den 14. und 15. August verabredetes Zusammensein organisatorisch von, "ein wenig trüb zwar, nur 4 müde(n) Nachtstunden" (174) in Wien über 7 Stunden, dann 15, schließlich 21 Stunden in dem Grenzort Gmünd (Paßprobleme gibt es in jedem Fall) zu steigern, wer diese Briefe gelesen hat, weiß, daß das Kursbuch in der Hand des Erotikers Unglück bedeutet. "Telefonieren werde ich nicht weil es erstens zu aufregend ist und zweitens unmöglich" (176).(Fußnote 2)

Höchste Aufregung verursachte der Apparat auch in einer Berliner Kindheit um 1900. Solche beim Vater: "seine eigentlichen Orgien galten der Kurbel, der er sich minutenlang und bis zur Selbstvergessenheit verschrieb. Und seine Hand war wie ein Derwisch, der der Wollust des Taumels unterliegt." (24) Und solche beim Sohn: "Wenn ich dann, meiner Sinne kaum mehr mächtig, nach langem Tasten durch den finsteren Schlauch, anlangte, um den Aufruhr abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatte, abriß und den Kopf dazwischen preßte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts war, was die unheimliche Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich, wie sie die Besinnung auf Zeit und Pflicht und Vorsatz mir entwand, die eigene Überlegung nichtig machte, und wie das Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigt, folgt, ergab ich mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telephon an mich erging." (ebd.)

Viele Jahre später, 1926, hatte Walter Benjamin gelernt, sich nicht dem ersten besten Vorschlag zu ergeben. Seine Moskau-Reise ist ein Desaster, sein Moskauer Tagebuch das Protokoll eines prototypischen erotischen Verhängnisses: die Frau, um die es geht, die Schauspielerin Asja Lacis, hat sich dem Besuch durch einen dubiosen Nervenzusammenbruch rechtzeitig in ein unglaublich überbevölkertes Zimmer im Sanatorium entzogen, Benjamin hat gleich nach einer Woche "immer erhöhte Schwierigkeiten, sie zu sehen, geschweige denn allein zu sehen" (32) und erzählt ihr im Gegenzug von den "verschwindend geringen Chancen" seines Aufenthalts hier, den er indes (eine unerwartete Geldsendung ermöglicht das) verlängert, Asja Lacis wird, zwei Tage nach dem vorgesehen Abfahrtstermin, entlassen. Von da an verlangt die Dramaturgie des Verhängnisses außer Intelligenz physischen Einsatz: Billets müssen geschrieben werden und zu spät den Gegner erreichen, damit der andere vergeblich warten kann, andere werden deponiert, wo man sie nicht finden kann, man muß es fertigbringen, sich unentwegt zu verpassen, A springt mitten im Gespräch auf die Trambahn und ruft B, der es nicht mehr schafft, auch aufzuspringen, den Namen eines Platzes zu, wo A dann nicht ist, wenn B kommt, weil B angeblich nicht verstanden hat, was A angeblich gesagt hat; man verabredet, sich vielleicht am Abend zu sehen, aber vielleicht auch nicht, was A vor das Rätsel stellt: ob B etwas zu essen gekauft hat, in welchem Falle sie nicht erscheint, weil sie zu müde war, im anderen Falle indes nur auf ein paar Minuten, weil sie eben müde ist oder gleich wieder weg muß; A zaubert aus der Luft einen widerwärtigen General, um schnell noch bei B eine Eifersucht zu erzeugen, außerdem ist die ständige Anwesenheit von Militär (Staat) ungefähr so gut wie ein volles Sanatoriumszimmer, all dies ist natürlich überaus anstrengend, erschöpfend und erfordert ganzen Einsatz: immer gerade dann können und wollen, wenn der andere nicht kann oder will, um das zum Verhängnis gehörige Unglück zu produzieren. "Ich schrieb am Tagebuch und glaubte nicht mehr, daß Asja noch kommen würde. Da klopfte sie. Als sie hereinkam, wollte ich sie küssen. Wie meist, mißlang es." Als es gegen Ende der Reise schließlich doch einmal zu gelingen droht (Benjamin hatte sie eingeladen mit dem verlockenden Versprechen, die lesbische Szene aus seiner Proust-Übersetzung vorzulesen), gelingt es wieder fast nicht: "Ich war wie ein Gefäß mit engem Halse, in das man Flüssigkeit aus einem Eimer schüttet." (136). Abschluß dieses Abends bildet wie versprochen: das Vorlesen. Stimme. (Fußnote3).

So ergebnislos Benjamin versucht, der ihm gegenüber dauer-verkühlten Frau "näher zu sein, mit ihr zu reden" (156): der Stimme am Telefon, die "von drüben" sich seiner zu bemächtigen versucht, indem sie Reisepläne macht und vorschlägt, in Berlin bei ihm wohnen zu wollen (151), widersteht er, der ihr kaum drei Wochen vorher gesagt hat, "jetzt würde ich Dich sofort heiraten" (155), er spottet in sein Tagebuch: "Asja liebt sehr, ins Telefon wichtige Dinge zu sagen." (ebd.) Allerdings: auch sein "Jetzt- würde-ich-Dich-sofort-heiraten" ist eine faustdicke Lüge, wie A natürlich weiß, da B in Berlin mit D verheiratet ist, von der er sich im Laufe des Verhängnisses, zwei Jahre später, auf ebenfalls verhängnisvolle Weise scheiden läßt, nachdem er auch ganz sicher ist, daß er A nicht heiraten wird. A allerdings, die in dem Moment (der Trennung) von einer "so scheint es wenigstens" Enzephalitis (Briefe 2, 501) befallen wird, ist in Benjamins Biographie die Aufgabe zugekommen, eine lebensentscheidende Reise zu vereiteln, deren wiederholte Ankündigung, Planung, Verschiebung schon ahnen ließen, daß er sie nicht tun würde: die Reise nach Jerusalem, die seine Existenz hätte sichern helfen können und mit deren Scheitern unmittelbar ein anderes Verhängnis verbunden war, das seinen Freund Gershom Scholem betraf: dieser hatte die Finanzierung durch die Universität veranlaßt. Die Summe war längst verbraucht (Scholem, 201, 204). In die Zeit der multiplen Krisen fällt unter anderem Benjamins Interesse an einem Versuch, verschiedene "Stimmen", "volldimensionale Stimmen" durch Untersuchung mehrerer Schriften der hebräischen Bibel "vernehmbar" zu machen, sowie seine Arbeit zu Kafka.

Das unmittelbare Ergebnis des Verhängnisses ist ein sonderbarer Sieg: "Ich habe sehr sehr lange geglaubt, nie mehr die Kraft zu haben ... herauszufinden und als sie dann auf einmal, mitten aus dem tiefsten Schmerz und der tiefsten Verlassenheit über mich kam, habe ich mich freilich an diese Kraft gehalten. So wie die Schwierigkeiten, die aus diesem Schritt hervorgehen, im Augenblick für mein äußeres Dasein bestimmend sind - es ist ja nichts leichtes an der Schwelle von vierzig ohne Besitz und Stellung, Wohnung und Vermögen zu stehen - so ist er selbst jetzt ... ein Fundament, auf dem es sich hart fühlt, in dem aber kein Platz für Dämonen ist." (Scholem, 202 f.) Es kehrt die Selbstironie wieder (ein Indiz dafür, daß die Dämonen nicht auf Dauer verschwunden, aber vorerst gebannt sind), eine Komik, mit der er dem Freund in Jerusalem schreibt: "Würdest du die Schuldsumme, die ich in den letzten Monaten zu zahlen hatte, vernehmen, sie würde Dir einen erheblichen Respekt vor dem Negativ meines Finanzporträts abnötigen." (207)

Langfristig gesehen, hat ihn das erotische Verhängnis (in Kombination mit anderen, die aus diesem Plädoyer nachdrücklich ausgenommen sind), zu einem Aufbruch regelrecht gezwungen, den er aber (Berlin? Moskau? Jerusalem?) nicht frei wählen konnte: nach Paris; allein; an seine Arbeit als Höllenforscher.

Ein Zeitgenosse hat in den zwanziger Jahren gemeint feststellen zu müssen, daß Benjamin seine "vielseitige Begabung zum Verhängnis wird", und das ist nur um ein Wort völlig falsch. Benjamin, dessen Geduld vom Engel der Geschichte gelernt hat, "wie er seinen Partner im Blick umfaßt, dann aber stoßweise und unaufhaltsam weicht" (Zur Aktualität Walter Benjamins, 99), hatte - euphemistisch gesprochen - eine erbarmungslos "vielseitige Begabung zum Verhängnis".

Zum erotischen Verhängnis hat im übrigen jeder eine Begabung, der Umgang mit den Dämonen pflegt. Das allerdings ist am Ende dieses Jahrhunderts gar nicht so leicht zu haben, wie es den Anschein hat. Ich schalte den Fernseher ein, zappe ein bißchen, schon ist da: so viel Hölle wie gewünscht, immerzu, jeden Tag, Tag und Nacht, aber es funktioniert nicht. Was sie im Programm haben, ist eine Hölle, die zwar meine Reisephobie verstärkt, weil sie ins Ressort der Außenpolitik fällt, mir aber deshalb noch längst keinen Dämon verschafft. Innenpolitisch ist weit und breit auch kein Dämon in Sicht, sondern, wo man hinschaut, sind Menschen, die von Berufs wegen Erotiker zu sein haben, die blanke Enttäuschung: alle Parteien gehen mit allen in einen Schmusekurs, oder sie umkreisen sich - auf allen Vieren - in Schnupperrunden, um herauszufinden, welches Rasierwasser die anderen kaufen; kurz: die fröhlichste mediale Debilität tobt durchs Lande, bloß kein einziger Dämon ist im Land zu finden, und wo doch, haben die, die einmal einen treffen, nichts besseres zu tun, als ihn und sich eilig zum Exorzisten zu schleppen, um anschließend nicht mehr zu wissen, wie er aussah: Irgendwie schrecklich. Es hilft nichts, unser heutiger B, der sich an Borges hält und im Haus bleibt, wo er ja außer dem Teufelchen alles hat, und unsere heutige A, die weder Borges, noch Benjamin nur dem Namen nach kennt und bei Sokrates Schule geschwänzt hat, müssen nach Capri: er, weil dort bekanntlich Dämonen zu finden sind, und sie, weil sie vergessen hat, was seit Homer jeder weiß: daß Reisen gefährlich sind. Und da jetzt geschieht das Unglaubliche: im Angesicht der vielbesungenen im Meer versunkenen roten Sonne (bzw. im Angesicht der Stelle, an der sie versunken ist), jetzt fährt tatsächlich der Teufel in sie. In beide. Jetzt kann das Verhängnis beginnen. Es beginnt unauffällig, fast wie eine Liebesgeschichte, nämlich mit der Bemerkung von B, wie gern er nach C fahre, am liebsten würde er öfter nach C fahren (er hat keinesfalls die Absicht, je wieder seinen Fuß vor die Haustür zu setzen, sobald er einmal sein Teufelchen gesichert hat). A nun, die es in C ganz nett findet, aber so nett auch wieder nicht, die vor allem nicht die geringste Ahnung hat, daß sie vom Teufel besessen ist, sagt völlig gelassen, wirklich schön hier. Das sind die zwei unerläßlichen bildschönen Eröffnungszüge, jeder kennt sie, aber die wenigsten wissen, was man draus machen kann - mangels Dämon. Kaum zu Hause, wo beide denken, daß es am schönsten ist, ruft B an und erzählt A, wie furchtbar es sei, wieder zu Hause zu sein. A darf jetzt dämonengemäß alles sagen, was sie will, bloß eins nicht: daß sie es zu Hause am schönsten findet, und das sagt sie auch nicht, weil vor ihr der Stapel mit Post liegt, unter der sie einige Rechnungen weiß, lieber telefoniert sie noch ein bißchen über C, über die Sonnenuntergänge. B äußert jetzt schon Sehnsucht nach C. Es ist sehr wichtig, daß bereits in frühestem Stadium Reisepläne zur Sprache gebracht werden, und zwar seitens des Radikal-Erotikers (hier B), der sich in den Besitz jener Kraft bringen will, von der oben die Rede war. Nicht so viel Kraft natürlich, das wird nicht zu machen sein, schließlich ist jede Generation in gewisser Weise ein wenig illusionsloser, wunschloser, schmerzscheuer auch als die vorige, somit antriebsschwächer, aber ein vertretbares Verhängnis dürfte auch heute noch ein vertretbares Maß an Kräften einbringen. Also: Reiseabsichten äußern, Reiselust beim Gegner wecken. Solange man ihn nicht hat, ist der Gegner verlockend. Dafür braucht es Stimme. Und eine Strategie. Phase eins: den Gegner aufbauen, ihm ins Ohr schmeicheln. Wahrnehmung trüben, einlullen. Der Gegner muß sich stark wähnen, sonst beißt er nicht an. Das zu bewirken ist einfach und heißt Verführen. Phase 2: Suchterzeugung. Stimmsucht, wohlgemerkt, die A unbelesenerweise mit Reiselust verwechselt. Daß das geht, belegt das Wort Telefonitis. Warum das geht, steht sehr schän in dem Kinderbuch "Post für den Tiger": "Einmal sagte der kleine Tiger: 'Aber wenn du im Wohnzimmer bist, ist es mir in der Küche auch so einsam, Bär.' Da legten sie einen Gartenschlauch von hier nach dort. - Haustelefon." Was daran fatal ist, weiß, wer die letzten Briefe von Kafka an Jesenska gelesen hat, haben wir aber nicht (der kleine Tiger und der kleine Bär lassen immerzu Flaschenpost an sich vorbeischwimmen), deshalb machen wir weiter: Phase 3. Mit Phase 3 beginnt der interessante Teil des Unternehmens, der eigentlich diabolische: sobald die Reiselust geweckt und in Stimmsucht verwandelt ist, kann das Verhängnis beginnen, dessen Struktur nicht anders als witzig erzählt werden kann. Benjamin erzählt sie. Man muß es machen, wie der Hoteldiener zu dem Gast, der am nächsten Tag geweckt werden will: "Wenn wir daran denken, dann werden wir wecken. Wenn wir aber nicht daran denken, dann werden wir nicht wecken. Eigentlich, meistens denken wir ja daran, dann wecken wir eben. Aber gewiß, wir vergessen es auch manchmal, wenn wir nicht daran denken. Dann wecken wir nicht. Verpflichtet sind wir ja nicht, aber, wenn es uns noch zur rechten Zeit einfällt, dann tun wir es doch. Wann wollen Sie denn geweckt sein ..." Auch wie es weitergeht: Es wird nicht geweckt. "Sie waren ja wach, was sollten wir da noch wecken." (60) Aktive Schizophrenisierung des Gegners ist unerläßlich, sonst wird kein Verhängnis draus. Den eigenen Wahn sicherzustellen, übernimmt der Dämon. Dem Dämon nämlich ist Deutschland einfach zu kalt. Der Dämon will wieder nach Capri. B verläßt das Haus nicht (konsequente Borgeslektüre; außerdem könnte das Teufelchen heimlich abhauen, und bis jetzt ist nicht nennenswert Kraft zusammengekommen, vorher läßt er den Teufel nicht raus). A, die nicht versteht, daß gar nicht sie, sondern nur der Dämon nach Capri will, ruft B dauernd an, was A, dem Radikal-Erotiker gut gefällt, nur muß er - so will es das Schach - dann auch anrufen, das geht auf die Telefonrechnung, die Stimmsucht wächst, das Anrufen beginnt manisch zu werden, weil der Dämon schließlich keine Engelsgeduld haben kann, er wird zuletzt wütend, er tobt, zwei Seelen in einer Brust sind entschieden zu wenig für so einen rasenden Dämon, den die Ferngespräche jetzt auch bald verrückt machen: unentwegt geht es um Capri, warum fahren die bloß nicht hin (Gründe s.o.). Phase 4 ist die entscheidende: der Dämon gibt keine Ruhe. Er tobt längst auch zwischen den Telefonaten, was den Effekt hat, daß es A und B zu Hause nicht mehr so schön vorkommt, auch beschweren sich langsam ihre Familien, daß man nicht mehr in Ruhe abendessen kann, weshalb einer den anderen bitten muß, nur zu bestimmten Zeiten anzurufen, ein Aufruf zur Zuwiderhandlung, es entsteht Terror-Neigung, das Abendessen ist irgendwie öd, A und B sind Tag und Nacht (Schlaflosigkeit) mit dem Dämon beschäftigt und starren Löcher in die Luft, bis sie es nicht mehr aushalten (die Kraft, die Kraft, wo bleibt die verheißene Kraft): Phone. Das geht eine Weile so hin, bis klar wird, das es so nicht mehr hingehen wird, weil die Bank mitteilt, daß sie keinesfalls Respekt für das "negative Finanzprofil" aufbringt, das durch die monatlichen (vorsichtshalber ungeöffnet weggeworfenen) Telefonrechnungen entstanden ist. Von Capri oder Nicht-Capri kann daher nicht mehr die Rede sein. Die Rede ist vielmehr von Phone oder No-Phone.

Die Autorin dankt der France Telecom für die freundliche Förderung ihrer Arbeit.

Verwendete Literatur

Benjamin, Walter, Briefe, Bd.1, Frankfurt/Main 1978

ders. Moskauer Tagebuch, Frankfurt/Main 1978

ders. Einbahnstraße, Frankfurt/Main 1972

ders. Berliner Kindheit, Frankfurt/Main 1977

Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt/Main

Borges, Jorge Luis, Blaue Tiger und andere Geschichten, München 1988

Kafka, Franz, Briefe an Milena, Frankfurt/Main 1986

de Sade, Die hundertfünfundzwanzig Tage von Sodom, Frankfurt/Main 1978

Fußnoten

1) Walter Benjamin, Kritiker der "Reisewut", der "verhängnis-volle(n) Gewalt des umsich greifenden Wandertriebs" (Einbahnstraße, 35), war ihr zugleich erlegen. "Daher geschah es, daß ich jedesmal als Heimatloser aus den Ferien kam." (Berliner Kindheit, 32) "In der Liebe suchen die meisten ewige Heimat. Andere, sehr wenige aber, das ewige Reisen. Melancholiker, die da Berührung mit der Muttererde zu scheuen haben." (Einbahnstraße, 67)

2) Seine "Angst" vor dem Telefon (Brief an Felice Bauer vom 23.1.1913, in dem er von ihr die Erfindung einer Art Tele-Diktaphon verlangt, eine Koppelung von Parlograph und Telefon, aber nicht um zu sprechen, sondern zum Schrifttransfer mit Speicherfunktion, genaugenommen: Hardware der achtziger Jahre) erhellt der Brief vom 14.8.1913: "Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein. Ich habe letzthin in einer 'Geschichte des Teufelsglaubens' folgende Geschichte gelesen: 'Ein Kleriker hatte eine so süße Stimme, daß sie zu hören die größte Lust gewährte. Als ein Geistlicher diese Lieblichkeit eines Tages auch gehört hatte, sagte er: das ist nicht die Stimme eines Menschen, sondern des Teufels. In Gegenwart aller Bewunderer beschwor er den Dämon, der auch ausfuhr, worauf der Leichnam ... zusammensank und stank.' Ähnlich, ganz ähnlich ist das Verhältnis zwischen mir und der Literatur." Es ist daran zu erinnern, daß Kafka 1917 an Tuberkulose erkrankte und die Verlobung löste.

3) "Asja begriff den wilden Nihilismus darin: wie Proust gewissermaßen in das wohlgeordnete Kabinett im Inneren des Spießers dringt, das die Aufschrift "Sadismus" trägt und erbarmungslos alles zu Stücken haut, so daß von der blitzblanken, arrangierten Konzeption der Lasterhaftigkeit nichts bleibt, vielmehr an allen Bruchstellen das Böse überdeutlich 'Menschlichkeit', ja 'Güte', seine wahre Substanz zeigt." Und genau dies, so fällt dem Allegoriker auf: ist, was er selbst am Barock (Ursprung des deutschen Trauerspiels) zu "erfassen suchte" und später, im Passagen-Werk, am 19. Jh. als die Hölle ergründet, die in der Warenseele tobt.(GS, V-1, 466)

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