Gertrude Stein war 59 Jahre, als sie 1933 ihren ersten literarischen Erfolg hatte. Sie hatte lange darauf gewartet und ihn sich sehr gewünscht, und sie war längst eine berühmte Frau, eine wichtige „Figur“ der Pariser Intellektuellenszene; kuriose Schrulle den einen, unschätzbar inspirierend für die anderen, verhöhnt und verehrt, eine Frau, die mit der größten Selbstverständlichkeit – oder scheinbar mit der größten Selbstverständlichkeit – Regeln nicht nur der Sprache brach und umstandslos aufhob, wenn sie ihrer freundlichen, aber hartnäckig fragenden Überprüfung nicht standhielten. Nur gelesen wurde sie nicht. Als sie die „Autobiographie von Alice B. Toklas“ geschrieben hatte, änderte sich das. Oder scheinbar änderte es sich.
Im Jahr darauf fuhr Gertrude Stein nach etwa dreißigjähriger Abwesenheit zum ersten Mal wieder nach Amerika. Sie war zu einer Vorlesungsreise kreuz und quer durch die Staaten eingeladen.
Früher hatte ich gesagt ich würde nicht nach Amerika gehen ehe ich nicht eine wirkliche Löwin und Berühmtheit war zu jener Zeit habe ich nicht wirklich geglaubt daß ich je eine werde. Aber jetzt waren wir im Kommen und ich war dabei eine zu sein.
Gertrude Stein war nicht nur Amerikanerin, sie war Amerikanerin in Frankreich und sogar amerikanische Schriftstellerin in Frankreich, das heißt, ihr Land und die Sprache, die dort gesprochen und geschrieben wurde, spielten für ihr Schreiben, da sie im Ausland war, eine größere Rolle, als wenn sie nicht im Ausland gewesen wäre. Sie hatte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Tausendseitenbuch, „The Making of Americans“ geschrieben, und es gibt wohl kaum einen Text von Gertrude Stein, in dem nicht von Amerika und seinen Besonderheiten die Rede ist: der kurzen Geschichte, der riesigen Fläche, dem feuchten Essen, dem Bürgerkrieg, dem unermeßlichen Himmel und der „importierten“ Sprache, die eigentlich für den kleinen Inselstaat England gemacht war und nicht für dieses riesengroße Amerika. Gertrude Steins Amerika-Reise war also nicht irgendeine, sondern eine ganz einmalige, triumphale, aufregende Reise. Und Gertrude Stein war aufgeregt.
... ich hatte mich nie um meinen Hals gekümmert aber jetzt da ich Vorlesungen halten sollte war ich plötzlich sicher meine Stimme würde mich im Stich lassen ... und als ich meine erste Vorlesung halten sollte hatte ich eine Erkältung und mein Hals machte mir Sorgen.
Sorgen machte ihr nicht nur der Hals, sondern auch die Frage, ob sie bei ihren Vorlesungen überhaupt Publikum haben würde und ob ihre Zuhörer ihr zuhören würden. Sie hatte ihre Vorträge – „Was ist englische Literatur?“ – vorher an Freunden ausprobiert und fand sie gut -,
aber sie sind für eine ziemlich intelligente Zuhörerschaft und obwohl sie klar sind sehr klar sind sie nicht eben leicht.
Bei ihrer Ankunft in New York wimmelte es nur so von Reportern, sie war erleichtert. Lampenfieber und Nervosität verschwanden sofort.
Es wimmelte von ihnen und war doch keine Plage, es waren Freunde und es gab Blumen und man fotografierte und man setzte sich nieder mit uns und dann kamen zwei von den Reportern herein um noch etwas mehr zu reden. Das war angenehm es ist immer angenehm noch etwas mehr zu reden. Jo Alsop war einer von ihnen. Ich erzählte ihm alles und er sagte ich spräche so klar warum ich denn nicht klar schriebe. Ich schreibe aber klar. Das ist keine Antwort das ist eine Tatsache.
Die Frage, ob Gertrude Stein klar schreibt oder nicht, ist auf den ersten Blick albern; das sollte sich doch wohl herausfinden lassen, oder? Es ist aber, wenn man darüber nachdenkt, eine wesentliche Frage, nicht nur weil die Meinungen darüber leidenschaftlich auseinandergingen und also aneinandergerieten, sondern auch weil der Mythos der Avantgardistin Gertrude Stein, an dem sie mitgewoben hat, lebenslang und erst recht nach ihrem Tod die Neigung hatte, sich vor ihre Texte zu schieben und im allgemeinen das Lesen dieser Texte zu verhindern.
Ich werde den Schirm in den Matsch werfen, sagte sie und niemand hörte sie. Ich werde den Schirm in den Matsch werfen, und es war verzweifelter Ärger in ihr; ‚Ich habe den Schirm in den Matsch geworfen’, und niemand hörte, wie es aus ihr herausbrach.
„Sie“ ist das Kind Martha Hersland in „The Making of Americans“. Was Martha passiert, ist etwas vollkommen Normales. Jedes Kind erlebt mehr oder weniger immerzu, daß es einen Satz fünfmal sagen kann, und es wird doch nicht gehört. Insbesondere weibliche Kinder, Marthas, sind daran gewöhnt. Das ist im übrigen auch niemandem vorzuwerfen, es liegt normalerweise nicht an einer besonderen Böswilligkeit oder Gemeinheit der Mutter, des Vaters oder sonstiger Erwachsener, die eben gerade nicht zuhören, sondern es liegt an dem einfachen Umstand, daß die Erwachsenen erwachsen sind und somit beschäftigt auf erwachsene Art, die sie am Zuhören hindert. Sie haben einen Alltag, sie haben Geschäfte, sie stecken in allen möglichen praktischen Aktivitäten und Sorgen, aus denen erwachsenes Leben besteht, sie haben anderes im Kopf, als zuzuhören, wie Klein-Martha in verzweifelte Wut darüber gerät, daß niemand ihr zuhört, obwohl sie jetzt schon ein paarmal wiederholt hat, daß sie den Schirm in den Matsch werfen wird. Es ist einfach so. Jedes Kind kennt das. Es ist normal.
Sie sagt immer, daß sie das Abnorme nicht leiden könne, es sei so durchsichtig. Das Normale, sagt sie, sei auf so viel simplere Art kompliziert und deshalb interessant.
Die Frage ist, wie es mit Martha weitergeht, nachdem sie verstanden hat, daß keiner ihr zuhört.
Alle haben, wenn sie jung sind, ein klein wenig Genie, das heißt, sie hören wirklich zu. Sie können gleichzeitig zuhören und sprechen. Dann werden sie ein wenig älter und viele von ihnen werden müde und sie hören weniger und weniger zu. Aber einige, sehr wenige hören weiter zu. Und schließlich werden sie sehr alt und sie hören gar nicht mehr zu.
Es ist ein ganz normaler Vorgang: erwachsen werden. Für das Verständnis von Gertrude Stein ist es wichtig, sich noch einmal daran zu erinnern, daß niemand etwas dafür kann und daß dabei keinem ein Vorwurf zu machen ist. Es ist deshalb so wichtig, weil ihre enorme Selbstdisziplin, eine ihrer großen Eigenschaften, sie während der 30 Jahre ihrer literarischen Erfolglosigkeit davor bewahrt hat, auch nur eine Zeile lang zu klagen oder Schuldige dafür zu suchen, daß sie nicht „gehört“ wurde, was geradezu ein Topos von Autorinnen war, ein verständlicher, wenn man daran denkt, wie selten es Frauen gelungen ist, ihre Stimme inmitten des mächtigen Stimmengewirrs von Männern so zu erheben, daß sie gehört wurde. Zweifel sowohl an der Gutwilligkeit derer, die nicht zuhören, wie auch an der Hörbarkeit der eigenen Stimme liegen nahe, wenn Frauen das Stimmrecht nur mit offenkundigem Widerwillen zugebilligt wird.
Das ist nicht Gertrude Steins Thema. Jedenfalls nicht so.
Desillusionierung im Leben ist herauszufinden daß einem niemand zustimmt nicht die die für einen kämpfen und gekämpft haben. Völlige Desillusionierung ist wenn man merkt daß niemand es kann da sie sich nicht ändern können.
Sie können nicht. Nichts zu wollen. Nur: damit ist die Verlorenheit der kleinen Martha natürlich um nichts geringer oder gar aus der Welt.
Als ich klein war war der furchtbarste Augenblick meines Lebens als ich es wirklich als Wirklichkeit erkannte daß die Sterne Welten sind und als ich es wirklich als Wirklichkeit erkannte daß es Kulturen gab die vollständig von der Erde verschwunden sind. Und jetzt geschieht das wieder. Damals hatte ich Angst schreckliche Angst, jetzt nun jetzt ist Angsthaben etwas weniger Beängstigendes als damals. Darüber gibt es allerhand zu sagen aber das kommt nach und nach.
Und nun kommt ihre zweite große Eigenschaft, über die man sich nicht genug wundern kann. Gertrude Stein entwickelt eine ungeheure Beharrlichkeit; sie beharrt auf dem Schrecken über das Verschwindenmüssen, den jedes Kind empfindet, den aber ein Kind üblicherweise, sobald es in die die soziale Wirklichkeit eintritt, darin Aufgaben übernehmen und also aktiv werden muß, beschwichtigt. Dieses Kind hingegen tut zunächst nichts, als darauf zu bestehen, was es weiß, nämlich daß Erwachsene nicht zuhören können, daß Sterne Welten sind, daß Kulturen verschwunden sind, daß Menschen sterben und daß das schreckliche Angst macht. Das Kind bleibt bei sich. Es ist dabei keineswegs introvertiert oder schwierig, schon als kleines Kind, als die Familie in Europa ist, schnattert es – zunächst in Wien drei Jahre lang deutsch und dann in Paris französisch – und plappert den ganzen Tag, und es hat auch gar keinen Grund, etwa schwierig zu sein, im Gegenteil: sein Vermögen, bei sich zu bleiben, beruht darauf, daß es als fünftes und letztes Kind ein ganz besonderes war:
Zunächst einmal wurde ich geboren, daran erinnere ich mich nicht, aber man hat mir ziemlich oft davon erzählt, ich wurde nicht nachts geboren sondern gegen acht Uhr morgens und wenn irgend etwas mit mir nicht stimmte sagte mein Vater immer vorwurfsvoll daß ich als vollkommenes Baby geboren sei.
Ein perfektes Baby zu sein, auch wenn der Vater dann später die Perfektion hier und da nicht mehr ganz so perfekt findet, das kann am Selbstbewußtsein nicht ohne Wirkung vorübergehen, besonders wenn man von der ganzen Familie überreichlich versorgt, verwöhnt und, was vielleicht das Entscheidende ist, gelassen wird. Denn das Gelassenwerden hat zwei Seiten: es läßt einen den Schrecken empfinden, ganz allein und verloren zu sein, es ermöglicht aber auch, bei sich zu bleiben und zu verharren.
Gertrude Stein beschreibt ihre Mutter als feine und nette kleine Frau, den Vater, überhaupt Väter, als deprimierend, aber sie erzählt auch eine Anekdote, die den Vater als empathischen und kurzentschlossen unkonventionellen Menschen zeigt. Auf der Rückreise aus Europa nach Kalifornien war sie fünf.
Das einzige, was Gertrude Stein noch von dieser Reise weiß, ist, daß sie und ihre Schwester wunderschöne große rote österreichische Filzhüte mit einer schönen Straußenfeder trugen, und als ihre Schwester sich einmal aus dem Abteilfenster lehnte, flog ihr der Hut vom Kopf. Ihr Vater zog die Notbremse und brachte den Zug zum Stehen und holte zu allgemeinem Entsetzen und Staunen der Mitreisenden und des Kondukteurs den Hut.
Im allgemeinen jedenfalls haben die Erwachsenen das Kind wohl in Ruhe gelassen und scheinen nicht so wichtig gewesen zu sein.
Ich war viel umsorgt und das ließ mir viel Zeit übrig. Ich nehme an so muß man es machen wenn man was vorhat. ... Wenn man das jüngste Mädchen in einer Familie ist dann ist es besser einen zwei Jahre älteren Bruder zu haben, weil das alles zum Vergnügen macht, man geht überall hin und tut alles weil er alles für einen tut und mit einem tut was eine vergnügliche Art ist alles zu erleben, manchmal geschehen Unfälle aber schließlich ist es sehr leicht sich dabei nicht verletzen zu lassen und jedenfalls ist es eine durchaus angenehme Aufregung für einen. ... So ging das Leben weiter und es war ganz sicher daß das Leben eine vergnügliche Sache war.
Leo und Gertrude Stein waren während der Kindheit und auch später, viel später, fast immer zusammen; erst nachdem sie angefangen hatten, in Paris zu leben, Bilder von Cézanne, Matisse und Picasso zu sammeln, sich mit den Malern befreundet zu haben und einen Salon in der rue de Fleurus zu führen – erst danach begannen sie beide mit neuen Lebensgefährten neue Leben, Leo mit seiner späteren Frau und Gertrude Stein mit Alice B. Toklas. Wenn Gertrude Stein ganz oft sagt, sie sei eine Löwin, dann ist das kein Astrologismus, sondern meint ihre Kraft, und es gibt einen Hinweis auf Verwandtschaft und Anhänglichkeit an ihren Bruder und auch auf den Konkurrenzkampf, der sich zwischen den Geschwistern entspann und der zur Trennung führte, als sie um die vierzig waren. Anlaß waren wohl die neuen Bindungen, der Grund aber für die dann schließlich radikal durchgeführte Trennung war, daß Gertrude Stein, die ihrem Bruder als kleine Schwester „gefolgt“ war, irgendwann selbst eine Löwin sein wollte, und darin nun wieder wollte Leo der Schwester nicht folgen, er hielt nichts von ihrer literarischen Entwicklung und schon gar nichts von Picasso, den sie beide eigentlich hochgeschätzt hatten, aber dann war es Gertrude Stein, die sich mit ihm befreundete, und Leo war gekränkt:
Sowohl er (Picasso) wie Gertrude gebrauchen ihren Intellekt, den sie nicht haben, um etwas zu tun, was den feinsten kritischen Takt erfordern würde, den sie genausowenig haben, und sie produzieren meiner Meinung nach den gottverdammtesten Blödsinn, den es je gab.
Gertrude Stein dazu:
Das einzige dabei war daß ich es war die das Genie war, es gibt keinen Grund dafür aber ich war es, und er war es nicht. Nach und nach sahen wir uns nie mehr wieder.
Und Leo:
Gertrude und ich sind genau das Gegenteil. Sie ist von Grund auf dumm und ich bin von Grund auf intelligent.
Gertrude Stein, so viel ist sicher, war ein lebhaftes, fröhliches und unbehelligtes Kind in einer glücklichen Kindheit, und abgesehen davon war sie so sehr bei sich, nämlich allein mit den Gedanken an Leben, Tod und Vergänglichkeit, daß sie sich an diese Gedanken gewöhnte, und nicht nur daran, sondern auch daran, daß es schrecklich einfache Gedanken sind, für die man Beistand braucht, wenn man sie aushalten will inmitten einer noch so wohlwollenden Welt, die sie entweder nicht denkt oder ihre Einfachheit oder ihre Schrecklichkeit nicht wahrnehmen will; und bekanntlich ist das Lesen kein Mittel gegen das Sterbenmüssen, aber es hilft gegen Verlorenheit, einmal weil Lesen eine tröstliche Versicherung im Dasein ist, ohne einem die Beschäftigung mit der Relativität von Zeit oder mit dem Verschwundensein ganzer Kulturen nur im geringsten auszureden, im Gegenteil, und zum anderen weil der Vorgang des Lesens dem lesenden Kind eine ganz eigentümliche Zuversicht eingibt: Das Lesen selbst ist ihm, sofern es „hören“, als „lesen“ kann, Beweis für die Möglichkeit, sich hörbar zu machen, indem man sich lesbar macht, indem man schreibt.
Warum lesen Sie nicht wie ich schreibe?
Lesen ist nicht nur kein Mittel gegen das Sterbenmüssen, es ist nicht mal ein Mittel gegen die Angst, aber es hilft gegen die lähmende Wirkung von Angst, es stößt sie an, löst sie aus der Erstarrung, belebt sie und bewegt sie und macht sie zu einem Motor. Jedenfalls wenn man so anarchisch liest wie Gertrude Stein.
Von ihrem achten Jahr an, als sie den ganzen Shakespeare las, bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr, als sie Clarissa Harlowe und Fielding und Smollett las und sich Sorgen machte, ob sie nicht etwa nach ein paar weiteren Jahren alles gelesen haben würde und nichts Ungelesenes mehr zu lesen wäre, lebte sie fortwährend in der englischen Sprache. ... tatsächlich las sie ständig und tut es immer noch.
Hören, sprechen, sehen, und also auch lesen – man muß nicht erst an die drei Affen denken, der eine taub, der andere blind, der dritte stumm, um zu wissen, daß diese drei Lebensfunktionen früh eingeschränkt, verbogen, zensiert, verstümmelt werden. Gertrude Stein hat den Einspruch vermutlich erst spät gehört, und da hat sie ihn nicht mehr gelten lassen. Das unbehinderte Hören, Sprechen und Sehen sind der Fundus gewesen, aus dem sie die Fähigkeit gezogen hat, ihren Kopf durchzusetzen auf völlig unbittere, ja, heitere Weise, und das in einer Zeit und unter Umständen, die gegen ein solches Kopfdurchsetzen ganz erhebliche Einwände hatte. Anekdoten darüber gibt es haufenweise. Eine erste zeigt ihren Mut, etwas nicht zu tun, was man von ihr erwartete, wenn sie nicht ganz sicher war, daß es jetzt getan werden mußte, und zwar selbst dann nicht, wenn ihr in dem Moment noch keine Alternative einfiel. Irgendwann Anfang zwanzig – ihre Eltern sind seit einigen Jahren tot, sie hat ein paar Jahre in einer großen, lebhaften Familie von Onkeln und Tanten gelebt und mit neunzehn ein Psychologie- und Philosophiestudium begonnen, später kam Medizin hinzu, und noch später fiel sie dann durchs Examen und empfand das als Segen, weil ihr die Medizin so langweilig war -; irgendwann also, Mitte der neunziger Jahre, saß die Studentin Gertrude Stein in einer Semesterprüfung bei ihrem Philosophieprofessor William James, dem Bruder des Schriftstellers Henry James, die sie beide bewunderte.
Sie saß da und hatte den Fragebogen vor sich liegen, aber sie konnte einfach nichts hinschreiben. Lieber Professor James, schrieb sie zuoberst hin, es tut mir so leid, aber mir ist wirklich heute gar nicht nach Philosophie-Examen zumute, und damit ging sie. Am folgenden Tag erhielt sie eine Postkarte von William James, auf der stand, liebes Fräulein Stein, ich begreife vollkommen, wie Ihnen zumute ist, mir geht es oft selbst so ähnlich.
So erzählt sie die Geschichte selbst in ihrer „Autobiographie von Alice B. Toklas“, in der sie durch den Mund ihrer Freundin über sich selbst und ihr Leben spricht.
Dazu Leo:
Gott, was ist sie für eine Lügnerin!
Wie dem auch sei, Gertrude Stein hatte nicht nur das Privileg einer akademischen Bildung, sie nahm sich auch noch – und auf liebenswürdige Weise – die Unverschämtheit heraus, sich über akademische Spielregeln wegzusetzen. William James übrigens ging es tatsächlich selbst oft so ähnlich. 1909 hatte Gertrude Stein zum ersten Mal etwas Literarisches veröffentlicht. Ein Exemplar hatte sie ihrem Professor geschickt und wartete nun auf seinen Kommentar. Und hier ist er:
Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen „Drei Leben“. Sie wissen ja, wie hart es für mich ist, Erzählungen zu lesen. Also, ich habe 30 oder 40 Seiten gelesen und sagte mir, ‚das ist eine feine neue Art von Realismus – Gertrude Stein ist groß! Ich werde sorgfältig darangehen, wenn die genau richtige Stimmung dafür kommt.’ Aber offensichtlich kam die richtige Stimmung nie.
Es wird sie natürlich gekränkt haben, aber sie wird es verwunden haben mit der vernünftigen Sturheit, mit der sie derlei Unfälle immer überstanden hat,
denn schließlich ist es sehr leicht sich dabei nicht verletzen zu lassen.
Auf die Frage, was ein Schriftsteller braucht, um arbeiten zu können, hat sie einmal geantwortet: Lob, Lob, Lob, aber tatsächlich war sie eben so sehr bei sich, daß sie nicht davon abhängig war, dieses Lob unbedingt bekommen zu müssen. Ähnlich ging es ihr mit Freunden: sie hatte sie gern, aber sie nahm es hin, daß Streiten und Streitereien vorkommen und daß daraus Trennungen werden können, und erwähnt solche Vorkommnisse mit plätschernder Sachlichkeit.
Es gab ein paarmal einen furchtbaren Streit, und dann gingen alle wieder zurück nach Paris.
Das ist höchst interessant sagte ich und dann sahen wir uns eine Zeitlang nicht mehr.
Er sagte oh ich sagte oh und er ging und bis zu diesem Jahr und dazwischen liegen zwei Jahre sahen wir einander nicht wieder.
Nicht gehört werden, weggehen, verlassen sein, sterben müssen ..., Gertrude Stein hat so lange darauf geschaut, bis das Paralysierende daran zur durchdachten stoischen Duldung wurde.
Angst haben ist eine Teilzeitbeschäftigung, aber es kann keine Ganzzeitbeschäftigung sein.
Als Teilzeitbeschäftigung ist es eine, die sie schreibend unschädlich macht: nicht selten durch Komik. In „Jedermanns Autobiographie“ gibt es eine Reihe kleiner Episoden, in denen es um Hausangestellte geht. Eine Haupteigenschaft von Hausangestellten ist, daß sie nicht dableiben und daß Alice B. Toklas und Gertrude Stein, dann wieder welche finden müssen. Gerade haben sie ein Paar gefunden.
Der Mann war Elsässer und wie viele Elsässer hatte er das Gefühl er könne alles tun auch wenn er es noch nie getan hatte und meistens hatte er es noch nie getan. ... Bald fanden wir heraus, daß sie herrlich kochte aber sie hatte nur eine Niere und wenn man nur eine Niere hat und herrlich kocht und einen Ehemann hat der nichts tut so ist das sehr ermüdend. Und so war es, und sie konnte nicht schlafen und so fand der Elsässer sie sollten alle unter den Bäumen schlafen. Man kann das in den Bergen nicht sehr gut besonders wenn einem eine Niere fehlt, es ist kalt und es gibt Tau unter den Bäumen und außerdem sehen es die Landleute nicht gern, nicht hier. Das regte den Elsässer auf. Alles regte den Elsässer auf bis die Leute im Dorf Angst vor ihm bekamen ... aber schließlich gingen sie getrennt fort und der Elsässer blieb im Dorf hängen und machte ihnen sogar noch mehr Angst und so mußten wir wieder ein anderes Paar suchen da wir gerade Gäste erwarteten und schließlich verschwand der Elsässer auch. Ich komme nie über die Tatsache hinweg daß man wahrscheinlich alle lange kennt und der Unterschied zwischen Lange-kennen und Gar-nicht-kennen ist gleich null. Jedenfalls kann niemand verloren gehen weil die Erde ganz voll ist von allen und sich alle immer bewegen und man immer alle sieht und nichtsdestoweniger sieht man sehr oft keinen von ihnen jemals wieder. Das ist es was damals geschah.
Dieses Gefühl, daß die Erde voll ist von allen und daher niemand verloren gehen kann, ist eine späte Variation eines Themas von Gertrude Stein, das in die Kindheit zurückreicht: viele Jahre zuvor hatte sich das Kind eine vorläufige Erklärung dafür ausgedacht, warum die Menschen und also auch es selbst sterben müssen. Wenn nämlich die Menschen nicht sterben müßten, dann wäre die Erde einfach zu voll, und keiner könnte sich mehr auch nur einen Zentimeter bewegen. Das ist logisch. Es ist ein Gedanke von schriller Radikalität und Nüchternheit, wie ihn nur ein Kind denken kann, bevor es das Wissen, daß es selbst in die Endlichkeit einbegriffen ist und also Platz machen muß, in sich zerstreut, betäubt oder zum Schweigen bringt, sei es durch Religion oder Metaphysik oder, wie in dem Jahrhundert üblich, in das Gertrude Stein hineingeboren wurde und aus dem sie sich wie kaum jemand befreit hat: durch den Glauben an Fortschritt, ein Aufeinanderfolgen von Dingen oder Zuständen, eine evolutionäre Abfolge. Ihr späterer Gedanke, daß nichts verloren gehen kann und daß, wie sie es nennt, die Dinge keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende haben und der seltsamerweise die unbedingte Anerkennung der individuellen Endlichkeit enthält ohne Leugnen oder Transzendenz, dieser Gedanke ist deshalb so wichtig, weil er dazu geführt hat, daß Gertrude Stein die Sprache, das Erzählen des 19. Jahrhunderts umgeworfen hat, jenes Erzählen, in dem alles einen Anfang hatte, eine Mitte und ein Ende und in dem die Dinge aufeinanderfolgten, Absatz für Absatz einer dem anderen folgte.
Wie wissen Sie etwas, nun Sie wissen etwas als vollkommenes Wissen als etwas das Sie vollkommen in sich haben im Augenblick da Sie es tatsächlich in sich haben. Das ist es was Wissen ist, und im wesentlichen ist Wissen daher nicht eine Aufeinanderfolge sondern ein unmittelbares Existieren. ... es mag fortlaufende Stadien des Wissens von etwas geben aber zu keiner Zeit des Wissens gibt es irgend etwas außer das Wissen dieser Sache der Sache die Sie wissen, Sie müssen nur genau wissen was Sie wissen und dann kann natürlich jeder wissen daß es stimmt.
Kein Prosatext von Gertrude Stein ohne die manchmal beschwörende, immer eindringliche Formel: Denken Sie nach, und dann werden Sie wissen, daß alles so ist und auf eine komplizierte Art einfach ist, jeder und jedes Kind kann das wissen. Diese Aufforderung, endlos, geduldig und unermüdlich wiederholt, ist nicht im geringsten belehrend, nicht der leiseste Ton von Überheblichkeit schwingt darin, sondern immer ist es wie eine Einladung zu etwas, das Freude macht. Tatsächlich war Gertrude Stein in ihrem Salon in der rue de Fleurus Nr. 27 ein äußerst einladender Mensch; sie wurde häufig besucht, und seit Anfang der zwanziger Jahre sind die Leute sogar scharenweise zu ihr gepilgert, getrieben von Neugier auf diese merkwürdige Frau, seltener auf die Freude, zu der ihre Texte einladen. Sie war „bei sich“, was die Voraussetzung für Denken und Schreiben ist, herauskommen kann man nur von innen, aber dieses „Bei-sich-Sein“ ist ebenso eine Quelle für die große sinnliche Freude darüber, einen Körper zu haben. Die folgende Beschreibung, die ihre damalige Freundin Mabel Dodge gibt, geht auf die Sommerferien 1904 zurück, später hat sich das Überlaufende, das Anstößige, aus Gertrude Steins Erscheinung zurückgezogen, aber alle Fotos bis zum letzten zeigen einen Menschen, der ganz offenkundig „da“ ist und nichts auf der Welt lieber mag, als „da“ und bei sich zu sein.
In dem heißen Toscanasommmer trug sie gewöhnlich eine Art Kimono aus braunem Kord und kam in vollem Schwei´daher, das Gesicht kochend vor Hitze. Und wenn sie sich setzte und sich mit ihrem breitrandigen Hut mit seinem verblaßten dunkelbraunen Band fächelte, strömte sie ringsum mächtigen Dampf aus. Wenn sie aufstand, löste sie ungeniert ihr Kleid, da wo es an ihren massiven Beinen klebte. Und doch war sie mit all dem keineswegs abstoßend. Im Gegenteil, sie war entschieden attraktiv in ihrer gewaltigen ‚ampleur’... Sie hatte keine Spur der seltsamen Scham, die die Angelsachsen über Fleisch haben. Sie frohlockte in ihrem.
Aus dem Mund eines Mannes freilich klingt das ein wenig anderes:
Sie lief wabbelnd herum – andere junge Mädchen trugen damals Korsetts ... – fett und wabbelnd und in Sandalen, und es war ihr stockegal.
Natürlich war ihre Erscheinung ein Skandal, der später in die Boulevard-Legende der Gertrude Stein eingepaßt wurde, wie es eben „paßte“. Sherwood Andersen hatte, als er Gertrude Stein 1921 kennenlernte, schon einiges gehört,
wonach in einem langen dunklen Zimmer eine träge Frau auf einem Sofa liegt, Zigaretten raucht, womöglich Absinth trinkt und aus müden, hochmütigen Augen auf die Welt hinausblickt. Von Zeit zu Zeit wendet sie langsam den Kopf zur Seite und äußert einige Worte, die von einer Sekretärin notiert werden ...
Diese und andere Gerüchte haben geflissentlich den wirklichen Skandal, nämlich das unbeirrbar Einladende und Ausladende, die bewegte Üppigkeit, unschädlich gemacht. Welche Überraschung für ein Publikum, das bei einer Vorlesung 1926 natürlich noch kein Wort von Gertrude Stein gelesen hatte, das konnte man nämlich so gut wie gar nicht, weil sie gar nicht oder nur auf eigene Kosten und in winziger Auflage gedruckt war, dafür aber von der Presse auf die „Exzentrikerin“ vorbereitet worden war und dann staunte:
... der verkörperte Triumph von Traum und Weltflucht, mit Glöckchen an Fingern wie Zehen; eine in Flitter gehüllte Meerjungfrau, die aus einer überlangen Zigarettenspitze Rauschzigaretten rauchte. ... Man konnte verfolgen, wie schnell sich diese Vorstellungen in Luft auflösten ... Niemand war auf die Folge vorbereitet, eine friedliche Lesung ... mit einer freundlichen amerikanischen Stimme dargeboten, die einem das Gefühl von Vertrautheit vermittelte, bis man sich über das Thema Gedanken machte.
Da ist also der Zuhörer Harold Acton an den Punkt gelangt, wo er die Einladung wahrnimmt, die Gertrude Stein ausgesprochen hat:
O ja, Sie sehen es. Sie sehen das.
Jeder kann das sehen, jeder kann es.
Und wenn Harold Acton die Einladung angenommen hat, wird er aus dem kindlichsten Staunen darüber, wie es ist, so schnell nicht herausgekommen sein, weil ihm aufgegangen sein dürfte, daß es keineswegs so ist, wie er gelernt hatte und gewohnt war zu meinen, daß es sei. Das Problematische an Gertrude Steins Einladungen ist es wahrlich nicht, daß sie sie nicht klar und deutlich ausgesprochen und hörbar gemacht hätte.
Es ist nicht Klarheit die wünschenswert ist, sondern Kraft. Klarheit ist unwichtig weil niemand zuhört und niemand weiß was man meint, noch wie klar man das meint was man meint. Aber wenn man genug Vitalität besitzt um genügend zu wissen was man meint, wird zuweilen jemand und zuweilen und zuweilen werden sehr viele einsehen müssen, daß man weiß was man meint.
Das Problematische ist also eher die Courage und die Sturheit, bei sich und bei dem, was man weiß, zu bleiben. Aber schon vorher fängt es an, sehr schwierig zu sein, denn selbstverständlich ist es so sehr und bei Strafe, nämlich bei Strafe der Verbannung und vollständigen Vereinsamung, noch in der liberalsten Gesellschaft verboten, an kollektiven Lebens- und Denkgewohnheiten zu kratzen, daß man es schlechterdings einen glücklichen Zufall nennen muß, wenn es einem gelingt, überhaupt einmal zu sich zu kommen. Wabbelnd herumzulaufen, während andere in ihre Korsetts gequetscht sind, ist eine tapfere Sache, aber um diesen Sittenverstoß begehen zu können, muß man sich zuvor erst einmal erlauben, überhaupt zu empfinden, daß Korsetts quetschen. Und das ist ein vergleichsweise harmloses Beispiel, denn angenommen, man findet heraus, daß die Sprache, die gesamte englische Sprache, so wie sie bisher dafür geeignet war, das, was man wußte, um bei Gertrude Steins Ausdruck zu bleiben, hörbar werden zu lassen, jetzt dafür nicht mehr geeignet ist, weil sie sich abgenutzt hat, und angenommen, man kann sich damit nicht zufriedengeben, weil man etwas „weiß“, nämlich wie außerordentlich aufregend es ist, „bei sich“ zu sein, welche geradezu euphorisierende Freiheit das manchmal ist, wenn es gelingt, den Schrecken und die Angst zu bestehen; und man will und muß unbedingt damit „heraus“, und zwar auf eine Art, die gehört wird, weil es das Hören und Gehörtwerden ist, womit man lebt und dem Sterbenmüssen etwas entgegenhalten kann; angenommen, man findet wie Gertrude Stein so etwas heraus, dann muß man die Sprache aus ihrem Korsett erlösen, damit sie wieder zu sich kommen und man sich in ihr freier bewegen kann.
Sie alle kennen Hunderte von Gedichten über Rosen, und Sie haben in Ihren Knochen gespürt, daß die Roes nicht vorhanden war. All jene Lieder, die Sopransängerinnen als Zugabe singen: ‚Ich habe einen Garten, oh, was für einen Garten“’ Nun, ich möchte nicht zuviel Nachdruck auf diese Zeile legen,weil sie nur eine Zeile in einem längeren Gedicht ist. Aber ich bemerke, daß Sie alle sie kennen; Sie machen sich über sie lustig, aber Sie kennen sie. Also hören Sie! Ich bin kein Narr! Ich weiß, daß man im täglichen Leben nicht herumgeht und sagt: ‚Is a ... is a ... is a’. Ja, ich bin kein Narr; aber ich denke, daß in dieser Zeile die Rose zum ersten Mal seit hundert Jahren in der englischen Dichtung rot ist.
Wenn man sich also am Anfang des 20. Jahrhundert als jüdische, lesbische Amerikanerin in Paris hinstellt und herausfindet, für das, was jetzt ist, nämlich nicht mehr das 19. Jahrhundert, sondern jetzt, eben jetzt, dafür gelten andere Regeln, dieses „Jetzt“, das einem aus allen Richtungen endlos zuströmt und endlos heraus will aus einem, ausgedrückt werden will, verlangt eine Jetzt-Sprache, eine, die das beunruhigende endliche und keineswegs irgendwie transzendentale „Jetzt“ des beginnenden 20. Jahrhunderts hörbar und also lebendig macht, dann setzt man sich hin, schreibt diese kontinuierliche Gegenwart, entfernt aus der unbeweglich gewordenen Sprache allen Ballast, alle Tradition, die schwierigen Wörter, die überladenen Wörter, die nur noch banal sind, die Kommata, die einen bloß gängeln und einem die endlose Gegenwartssprache zerhacken, weg damit, die Fragezeichen, denn wozu Fragezeichen, wenn doch auch so jeder weiß, was eine Frage ist, die Absätze, die ein Fortschreiten der Erzählung suggerieren, wo es doch gar kein Fortschreiten gibt; stattdessen fängt man an, mit den kleinen täglichen Wörtern, den unbeachteten Wörtern, die Sprache in jede mögliche Richtung zu bewegen, weil man das entdeckt hat: daß im 20. Jahrhundert sich die Dinge nicht in eine, sondern in jede mögliche und jede verschiedene Richtung auf einmal bewegen und nicht mehr geraden Wegs voran; dann, wenn man das macht und nicht einmal ein Mann ist, sondern auch noch eine Frau, dann ist das keineswegs so ein harmloses Unterfangen, vergleichsweise milde ist es eher, wenn die Leute einen dann bloß für ein bißchen verrückt halten und denken, man spinnt. Dann ist man jedenfalls nicht nur frei, sondern auch gleich noch vogelfrei, und wenn man dann finanziell durch den großen Bruder Michael Stein so gesichert ist, daß man ein unaufwendiges Leben in vernünftiger Armut führen kann, dann hat man erstmal das, was man immer hatte und immer haben wollte: Zeit, nämlich alle Zeit der Welt auf einmal: jetzt.
Zeit und Bewegung sind im wesentlichen das, was die Lebenden von den Toten unterscheidet, und es ist insofern klar, daß jemand, der immerzu Leben spüren möchte, weil er schreckliche Angst vor dem Totsein hat, Zeit als kostbar empfindet. Und das tat Gertrude Stein, indem sie diese Zeit, so gut sie konnte, nicht mit Tätigkeit füllte; äußere Trägheit ist eine Voraussetzung gewesen für das „Nichts-Tun“ mit ihrer Zeit.
... was man unter Arbeit versteht ist etwas was ich nicht tun kann es macht mich nervös, ich kann lesen und schreiben und ich kann herumwandern und ich kann ein Automobil fahren und ich kann reden und das ist fast alles, etwas anderes tun macht mich nervös.
Tätigkeit, so spürte Gertrude Stein, ist eine falsche Bewegung: etwas Zeitvernichtendes; Tätigkeit stellt das her, was als Anfang, Mitte und Ende eine Abfolge von Zeit vortäuscht und somit dem Zeithaben entgegenläuft. Zeit zu haben und damit nichts zu tun, ist in ihren Augen Kennzeichen eines Heiligen und eines schöpferischen Menschen oder, wie sie sagt, eines Genies.
Es braucht viel Zeit ein Genie zu sein, man muß so viel herumsitzen und nichts tun, wirklich nichts tun.
Dieses Nichtstun war durch den absoluten Glücksfall Alice B. Toklas im Leben von Gertrude Stein möglich geworden und blieb es von 1907 bis 1946, das sind 39 Jahre. Ganz offenbar war Alice B. Toklas die praktischere von den beiden Frauen, sie führte den Haushalt, war nach Auskunft der Biographen und früherer Gäste eine begnadete Köchin und erbarmungslose, gefürchtete Kundin beim Metzger, und Gertrude Stein gibt die Rollenverteilung in „Jedermanns Autobiographie“ selbstironisch zu und zum besten. Auf jener Amerikareise 1935, von der schon die Rede war, soll sie wieder einmal fotografiert werden, und zwar bei irgendeiner Tätigkeit.
Gut sagte ich was wollen Sie, was soll ich tun. Nun sagte er da ist Ihr Flugkoffer vielleicht packen Sie ihn aus, oh sagte ich das tut Miss Toklas immer oh nein ich könnte das nicht tun, gut sagte er hier ist das Telefon vielleicht telefonieren Sie nun ja sagte ich aber das tue ich auch nie Miss Toklas tut es immer, nun sagte er was können Sie denn tun, nun sagte ich ich kann meinen Hut aufsetzen und den Hut abnehmen und ich kann meinen Mantel anziehen und ich kann ihn ablegen und ich mag Wasser ich kann ein Glas Wasser trinken sehr gut sagte er tun Sie das und ich tat es.
Während als Alice B. Toklas alles Tun und Müssen und auch sonst die unangenehmeren Dinge des Lebens, zum Beispiel Ehefrauen befreundeter Maler und Schriftsteller von ihr fernhält, ist Gertrude Stein „bei sich“ im Nichts-Tun und findet all dies heraus, was „jeder weiß“, aber sonderbarerweise nicht wahrhaben will. Zum Beispiel, daß Zeit, etwas das sie immer beunruhigt hatte, unter bestimmten Bedingungen zu überwinden sein kann.
... angenommen es gäbe Zeit genug Zeit spielte keine Rolle weil es immer Zeit genug gibt, wenn es überhaupt genug von etwas gibt dann brauchte man sich keine Sorgen zu machen und es gibt ja immer Zeit genug. Ich machte mir dann keine Sorgen mehr über die Zeit aber ich hörte einfach auf weiterzumachen. Genau das ist Zeit. Es gibt immer genug und deshalb gibt es kein Weitermachen nein nicht im menschlichen Geist es gibt nur ein Darin-Verharren. ... Der Geist des Menschen hat mit Zeit nichts zu tun da er innen ist und genug innen drinnen hat nichts mit nichts irgend etwas zu tun.
Wenn man bei sich ist und Zeit hat, macht man die Erfahrung, daß es Zeit nicht gibt. Und noch etwas gibt es nicht: Identität. Jeder kann diese Erfahrung machen, und sie war keineswegs neu, als Gertrude Stein sie machte, aber nicht jeder macht sie.
Und sind Sie schöpferisch, ja, wenn Sie existieren, aber Zeit und Identität existieren nicht. Wir leben in Zeit und Identität, aber da wir sind, kennen wir Zeit und Identität nicht, das weiß einfach jeder. Es ist so einfach daß jeder das weiß. Aber zu wissen was man weiß, ist beängstigend, zu leben was man weiß, ist besänftigend, und obwohl sich jeder gerne ängstigt, ist das was sie wirklich haben müssen, Besänftigung.
Besänftigend ist es, von außen, von anderen, von Regeln, von der Welt eine Vergewisserung für das eigene Dasein zu erhalten, eine Bestimmung, eine Fremdbestimmung nämlich. Ihre Unterscheidung von „außen“ und „innen“ ist immer messerscharf; „außen“ ist alles, was mit der Natur des Menschen zu tun hat, und die ist nicht besonders interessant, „innen“ ist das, was mit dem Geist des Menschen zu tun hat, und dort bewegt es sich, weil dort Zeit und Identität nicht anerkannt und somit überwunden werden können. Zu keiner Zeit hat die Psychoanalyse für Gertrude Stein eine Verführung sein können.
Ich bin ich weil mein kleiner Hund mich kennt.
Natürlich ist nichts dagegen zu machen, daß man von außen bestimmt wird; wenn diese Fremdbestimmung aber nach „innen“ genommen wird, entsteht Identität, und somit ist Identität für Gertrude Stein etwas, somit man dem Schrecken, allein zu sein und allein sterben zu müssen, ausweichen kann. Der Preis dafür ist das allmähliche Taubstummwerden, die Unproduktivität, und Gertrude Stein will nicht unproduktiv sein, sie will gehört werden, lebendig sein. Ihre Angst ist nicht durch angefüllte Zeit und fremd definiertes Leben, also „Identität“ zu beschwichtigen. Sie lehnt die Spiegel ab; nicht weil sie so asketisch wäre, das ist sie nicht, sondern weil sie feststellt, daß Spiegel nicht wirklich helfen; sie besänftigen, aber sie vernebeln das, was man weiß und worauf man beharren muß. Und da sie ein geselliger Mensch war, der gern sprach und gern zuhörte, und zwar, wie sie sagte, gleichzeitig, der sich aber durch dieses Sprechen und Zuhören nicht in Identität drängen lassen wollte, weil das verhindert hätte, daß sie bei sich wäre und von dort aus sich hörbar machen würde, deshalb erfand sie ein uraltes philosophisches Zauberkunststück: das „So-tun-als-ob“. Wenn man so tut, als ob es Identität und Zeit gäbe, in Wirklichkeit aber weiß, daß es im Geist des Menschen, also „innen“, weder Zeit noch Identität gibt, dann und nur dann kann man außen und innen voneinander unterscheiden, und wenn man das kann, dann ist man erstens ein Genie und kann zweitens ein Meisterwerk schaffen.
Zu wissen was man weiß, ist beängstigend, zu leben was man weiß ist besänftigend, und obschon sich jeder gerne ängstigt, ist das was sie wirklich haben müssen, Besänftigung und daher gibt es so wenig Meisterwerke, nicht daß die Meisterwerke selber beunruhigend sind, nein, natürlich nicht, weil wenn der Schöpfer des Meisterwerks sich ängstigt, dann existiert er nicht ohne die Erinnerung an Zeit und Identität, und insofern er so ist, ängstigt er sich dann und insofern er sich ängstigt, existiert das Meisterwerk nicht; es sieht so aus und fühlt sich so, aber die Erinnerung an die Furcht zerstört es als Meisterwerk. ... Robinson Crusoe und die Fußspur des Mannes Freitag sind eines der vollkommensten Beispiele für die Nichtexistenz von Zeit und Identität die ein Meisterwerk machen. ... Es gibt keine Zeit und Identität in der Art wie es geschah und darum gibt es keine Furcht. Und so gibt es sehr wenig Meisterwerke, natürlich gibt es sehr wenig Meisterwerke, weil imstande sein zu wissen, das heißt keine Identität und Zeit zu haben, aber nichts gegen Sprechen zu haben als gäbe es sie, weil es sich in nichts einmischt und seiend, nicht, nicht als gäbe es keine Zeit und Identität sondern als gäbe es sie, und gleichzeitig existierend ohne Zeit und Identität so sehr einfach ist daß es schwierig ist viele zu haben die das sind.
Bündig und ganz deutlich sagt sie kurz darauf:
Die Tatsache daß sie alle sterben, hat etwas mit Zeit zu tun aber es hat nichts mit einem Meisterwerk zu tun.
Wenn man genau liest oder hinhört, erkennt man nicht zwei, sondern drei Möglichkeiten zu leben. Entweder dominiert das pure „Außen“. Das ist normal. Oder es gibt das Außen und Innen, was schon seltener ist. Dann ist die Frage, ob man es auseinander halten kann. Wenn man das nicht kann, und es geht nur mit dem So-tun-als-ob-Trick, dann hat man die Furcht nicht überwunden, sondern allerhöchstens betäubt. Dieses „Halbe-Halbe“ ergibt nach Gertrude Stein korrupte Kunst. Oder man kann Außen und Innen eben trennen. Das gibt es eigentlich so gut wie fast nie.
Diese Dreiteilung ist fundamental, gewissermaßen ein Exiom in Gertrude Steins Denken; im Grunde basiert fast jeder Satz Prosa, den sie geschrieben hat, immer auch darauf: man kann der Angst vor dem Sterbenmüssen auf genau drei Arten begegnen. Noch einmal die erste, der Normalfall: Man kann identisch, also fremdbestimmt leben und seine Zeit mit Aktivität, dem Geltungskampf füllen und damit stillstellen, also die Todesfurcht durch Mimikry an den Tod unhörbar machen und so verstummen.
Wenn es keine Identität gäbe, könnte niemand regiert werden, aber jeder wird regiert von jedem und daher schaffen sie keine Meisterwerke ... aus diesem Grund ist regieren beschäftigend aber nicht interessant.
Als der amerikanische General Osborne sie nach dem Krieg fragte, was denn ihrer Meinung nach getan werden sollte, um die Deutschen umzuerziehen, gab sie ihm folgenden Rat:
Ich sagte da gibt es nur eins und das ist ihnen Ungehorsam beizubringen, so lange sie gehorsam sind so lange werden sie früher oder später von einem Schurken herumkommandiert und es wird Unheil geben. Lehren Sie sie Ungehorsam, sagte ich, lassen Sie jedes deutsche Kind wissen daß es seine Pflicht ist wenigstens einmal am Tag seine gute Tat zu tun und nicht zu glauben was sein Vater oder Lehrer ihm sagt, verwirren Sie ihnen die Köpfe, richten Sie Verwirrung an in ihren Köpfen und vielleicht werden sie dann ungehorsam sein und die Welt wird Frieden haben. Gehorsame Völker gehen in den Krieg, ungehorsame Völker lieben Frieden, ... lehren Sie sie Ungehorsam, und die Welt kann friedlich sein.
Die „gehorsame“ Existenz hat Gertrude Stein keine Sekunde erwogen; sie lebte natürlich unter den „ Normalfällen“, aber war doch so weit davon entfernt, daß sie sich nicht einmal darüber aufregen mußte. Es ist so. Keiner kann was dafür.
Sie ging den dritten Weg: so tun, als ob man „ identisch“ und in der Zeit sei, im Inneren aber beides nicht anerkennen; das ist durchaus nicht mystisch, es entspricht vielleicht in etwa der friedlichen, durch und durch sozialverträglichen Ethik eines Konfuzius; es ist der kompliziert-einfache Trick, von dem sie sagt, daß er ihre Weisheit und ihr Genie ausmacht.
... ich hatte immer Angst gehabt werde immer Angst haben aber schließlich kommt es eben darauf an das Totsein nicht abzulehnen obwohl im Grunde jeder das Totsein ablehnt.
... ich erinnere mich wie aufgeregt ich war als ich beim ersten Lesen des Alten Testaments sah daß darin nie von einem künftigen Leben gesprochen wird, es gab Gott es gab Ewigkeit aber es gab kein künftiges Leben darin und es beunruhigte mich natürlich daß es keine Begrenzung des Raums gibt und man doch in einem begrenzten Raum lebt und daß es im eigenen Inneren keinen Zeitbegriff gibt man aber tatsächlich immer in der Zeit lebt und daß es den Lebenswillen gibt aber wenn man wirklich völlig weise ist das heißt wenn man ein Genie ist dann ist das was einen zum Genie macht auch das was einen lebendig macht aber das hat nichts zu tun mit Amlebensein das heißt mit dem Existenzkampf. Wahrhaftig, Genie das heißt Existenz ohne innere Anerkennung der Zeit.
Wirklich ärgern konnte es Gertrude Stein, wenn jemand nicht den ersten und nicht den dritten, sondern den Mittelweg ging und sich das „Innen“ vom „Außen“ so affizieren ließ, daß schließlich die Möglichkeit, schöpferisch zu sein, aus narzißtischer Schwäche verspielt wird. Hemingway ist für Gertrude Stein genau so ein Schriftsteller, wie sie keine Meisterwerke schaffen, weil sie beim Schreiben nicht ohne die Erinnerung an Identität und Zeit sind: Gertrude Stein hielt Hemingway für feige, nämlich für erfolgssüchtig und somit den Verführungen des „Außen“, des „Identisch-Seins“ unentwegt erlegen, und obwohl sie selbst sich wirklich wünschte und oft sehre dringlich wünschte, gehört zu werden, war ihr Eitelkeit zuwider, wenn sie das Schreiben bestimmt. Und das muß man trennen können.
Der Schriftsteller, der ernste Schriftsteller, fasst sich als ein in sich und durch sich bestehendes Wesen auf; er lebt keineswegs in der Spiegelung seiner Bücher; um zu schreiben, muss er in erster Linie in sich bestehen.
Dies ist das einzige, einfache, gültige Kriterium für die Beurteilung von Kunst: absolute Korruptionsresistenz des Autors gegen die Einflüsterungen vom Jahrmarkt der Eitelkeit, und Gertrude Stein ist kompromißlos streng und unerbittlich, auch wirklich böse, wenn einer durchzukommen versucht. Hemingway kam nicht durch.
Hemingway war damals Pariser Korrespondent für eine kanadische Zeitung. Er war also gezwungen, das auszudrücken, was er den kanadischen Standpunkt nannte. ... Eines Tages sagte sie zu ihm, hören Sie her, Sie sagten doch, daß Sie und Ihre Frau ein klein wenig Geld im Hintergrund haben. Genügt es, um bescheiden davon zu leben? Ja, sagte er. Gut, sagte sie, dann tun Sie es. Wenn Sie weiterhin für Zeitungen arbeiten, werden Sie niemals Dinge sehen, sondern bloß Worte, und das genügt nicht, ich meine natürlich, wenn Sie ein Schriftsteller werden wollen.
Ein Schriftsteller wollte er werden, aber was er auch noch wollte: mitspielen. Und das geht nicht. Entweder man tut so, als würde man mitspielen, einzig um „innen“ frei vom „Außenspiel“ zu bleiben und schreiben zu können, oder man spielt tatsächlich mit, und dann ist es aus mit der Kunst.
Was für eine Geschichte gäbe das, die Geschichte des wahren Hem, und eine, die er selbst schreiben müßte, aber ach, das wird er nie tun. Denn schließlich ist da noch, wie er einmal seufzte, die Karriere, ach ja, die Karriere.
Die beiden Freunde, die sie – von kleineren Irritationen abgesehen – ihr Leben lang begleiteten, waren seit 1905 Pablo Picasso und später Sherwood Anderson. Dabei war ihr die Anerkennung von Anderson möglicherweise noch kostbarer als Picassos, weil Anderson dasselbe Metier hatte wie sie, und für Maler gelten schon andere Regeln. Wohl kaum aber wäre Gertrude Stein ohne Picasso auf die tollkühne Idee gekommen, den Kubismus, den Beginn des 20. Jahrhunderts in der Kunst, aus der Malerei in die Sprache zu übersetzen; sie hat diese Idee über Jahre hinweg verfolgt und ist dafür selbst von wohlwollenden Freunden mit leerem Kopfschütteln bedacht worden. Umso wichtiger war Sherwood Anderson.
Ich glaube nicht daß Ihnen ganz bewußt ist was es bedeutet daß einer und Sie sind der einzige ganz einfach versteht worum es bei dem allen geht ganz einfach versteht wie man annehmen möchte daß jeder verstünde.
Ganz einfach verstanden zu werden; in diesem Brief vom September 1922 kommt die Erlösung heraus: da ist jemand, der beim Lesen der „Tender Buttons“, der „Zarten Knöpfe“ – das ist jenes Buch, auf das die Reporter später als unverständlichen Text anspielen – nicht nur versteht, worum es geht, sondern der das sogar liebt und es auch laut sagt und schreibt:
Mein Gedankengang in dieser Angelegenheit verläuft etwa so – daß jeder Künstler, der im Medium des Wortes arbeitet, mitunter aufgebracht sein muß über das, was als die Begrenztheit seines Mediums erscheint. Welche Schöpfungen möchte er nicht aus Worten gestalten! ... Man arbeitet mit Wörtern, und man wünscht sich Wörter, die auf den Lippen einen Geschmack und in der Nase einen Duft erzeugen; klappernde Wörter, die man in eine Schachtel werfen und schütteln könnte, damit sie in schrill klingendes Geräusch von sich gäben; Wörter, die – wenn man sie auf der Druckseite sieht – eine ausgesprochen fesselnde Wirkung auf das Auge ausübten; Wörter, die sich, wenn sie unter dem Füllfederhalter hervorspringen, mit den Fingern erfühlen ließen, als striche man zärtlich über die Wangen der Geliebten.
„Tender Buttons“ ist das einzige Buch von Gertrude Stein, das man nicht in der Übersetzung lesen sollte. Es entstand um 1912, zu der Zeit, als die Entzweiung vom Bruder eine Leere hinterließ und Gertrude Stein ihre Nähe zu Picasso daher stärker spürte als sonst. Und vor ihnen zog sich der erste Weltkrieg zusammen. Gertrude Stein beschäftigte sich zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben wenig mit Menschen. Das Sehen trat gegenüber dem Hören und Sprechen in den Vordergrund. Was sie dann schrieb, sind Stilleben. Bewegte Stilleben.
Ein hübsches Ding so zu machen daß jeder fühlen kann daß das Ding ein hübsches Ding ist, ist etwas.
Stilleben kann man eigentlich nicht „verstehen“. Man kann Lust haben, sie anzusehen, oder auch nicht.
Sie sehen, es wird kompliziert weil man ein Ölgemälde schließlich gerne ansehen muß.
Man kann, wenn man sie mag, darüber nachdenken, wie sie gemacht worden sind und warum sie so und nicht anders gemacht worden sind, und so hat Sherwood Anderson sie „verstanden“. Wenn man aber daran geht und versucht, sie so zu verstehen, als ob sie gar keine Stilleben wären, wird man keine Lust haben, sie anzusehen. Und genau so ist das bei den „ Tender Buttons“ gewesen.
Ungefähr um diese Zeit begann ich mich zu fragen was man gerade sah wenn man sich etwas anschaute sich wirklich etwas anschaute. Sah man Klang, und was war die Beziehung zwischen Farbe und Klang, machte es sich selbst durch Beschreibung durch ein Wort das es bedeutete oder machte es sich selbst durch ein Wort an sich. ... Zu jener Zeit wie ich sagte, schränkte ich so weit einschränken für mich möglich war sprechen und zuhören ein.
Die „Tender Buttons“ sind ein Sonderfall, das Nadelöhr, durch das Gertrude Stein hindurch mußte, um sich dann wieder – und wieder und wieder – ihrer Lebensarbeit zuzuwenden: den Rhythmus der belebten Welt hörbar zu machen., aber
... langsam änderte es sich wieder, sprechen und zuhören kamen langsam wieder dazu wichtiger zu sein als das was ich anschaute. ... Wie es immer geschieht man beginnt wieder. Wie oft es auch geschieht man beginnt wieder und jetzt auf meine Art begann ich wieder.
Das dauernde Wiederbeginnen, ihr Beharren darauf, mit demselben anders wiederzubeginnen,
ist niemals Wiederholung. Es ist nicht Wiederholung wenn es das ist was man tatsächlich tut weil natürlich jedes Mal die Emphase verschieden ist. ... Und jeder von uns hat das zu tun, sonst gibt es kein sein. Wie Galilei bemerkte, sie bewegt sich.
Ein einziges Mal stockt der Schreibstrom: als die „Autobiographie von Alice B. Toklas“ ein Erfolg wurde, geriete Gertrude Stein ein dreiviertel Jahr lang „außer sich“. Wirklich beunruhigt war sie wohl nicht. Publikum, das war ihr schon immer klar gewesen, ist noch ärger im Identitätsstiften als ein kleiner Hund; natürlich ist nicht das Maß des Einverständnisses, das Leser mit einem Text bekunden, Maßstab für seinen Kunstwert, sondern das, was ein Autor in dem Moment weiß, in dem er schreibt in dem das, was er weiß, nicht das gelehrte, sondern das gelebte Wissen durch den Arm aufs Papier fließt, ohne daß er noch vor einer Minute selbst gewußt hätte, daß er das weiß, was dann da steht. Gertrude Stein nennt das die Vitalität von Erkenntnis und weiß, daß sie nicht nur ohne Spiegel schreiben kann, sondern das man das muß, allein, ohne Identität, mit sich selbst und der Sprache, um schreibend die Zeit aufzuheben. Nur von innen kommt man heraus, und Gertrude Stein, 60jährig, brauchte Zeit, um sie nicht zu füllen. Als lebensvoller Mensch genoß sie den späten Erfolg, bestaunte das erste selbst verdiente Geld, ließ sich und Alice B. Toklas Kleider für Amerika schneidern und kostete dort den Triumph gründlich aus. Sie brauchte die Zeit auch, um sich freizumachen vom plötzlichen Publikum, von der Illusion, sie würde „gehört“ werden.
Warum lesen Sie nicht was ich schreibe?
Die Freiheit, einfach zu sagen, was man weiß, ist schließlich auch im 20. Jahrhundert – und gerade in diesem Jahrhundert – unerhört geblieben.
Was Gertrude Stein über dieses Jahrhundert wußte? Sie müssen nur genau wissen, was Sie wissen, und dann werden Sie wissen und jeder kann wissen, daß es stimmt. Es ist so klar, daß man anfangen muß, sich darüber Sorgen zu machen.
Das zwanzigste Jahrhundert ist grossartiger als das neunzehnte, ganz gewiss ist es grossartiger. Das zwanzigste Jahrhundert hat in seiner Daseinsform weniger Vernunft als das neunzehnte, aber Vernünftigkeit trägt nicht zur Grossartigkeit bei. Das siebzehnte Jahrhundert hatte in seiner Lebensform weniger Vernunft als das sechzehnte, und folglich ist es grossartiger. So steht es mit dem zwanzigsten Jahrhundert; es ist eine Zeit, in der sich alles auspaltet, wo alles zerstört ist, alles sich absondert; es ist eine grossartigere Zeit als eine Periode, in der sich alles folgt. So ist das zwanzigste Jahrhundert also eine grossartige Periode, keine vernünftige in wissenschaftlichem Sinne, aber grossartig. ... Es war ganz natürlich, dass es ein Spanier war, der erfasste, dass ein Ding ohne Fortschritt grossartiger ist als etwas, das fortschreitet. Die Spanier, die es lieben, einen Berg in voller Geschwindigkeit zu ersteigen, und bergab langsam zu gehen, waren dazu bestimmt, die Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts zu erschaffen, und sie taten es, Picasso tat es. Man darf nicht vergessen, dass die Erde grossartiger ist, wenn man sie vom Flugzeug aus sieht, als wenn man sie vom Auto aus sieht. Das Auto ist das Ende des Fortschritts auf der Erde; es fährt schneller, aber im wesentlichen ist die Landschaft, die man vom Auto aus sieht, die gleiche wie die Landschaft, die man vom Pferdewagen, vom Zug, vom Fahrrad aus oder beim Wandern sieht. Die Erde, die man vom Flugzeug aus sieht, ist jedoch etwas anderes. So ist das zwanzigste Jahrhundert nicht das gleiche wie das neunzehnte, und es ist sehr aufschlussreich, zu erfahren, dass Picasso die Erde nie vom Flugzeug aus gesehen hat; als ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts wusste er unweigerlich, dass die Erde nicht die gleich ist wie im neunzehnten Jahrhundert; er wusste es, und unweigerlich machte er etwas anderes, und was er machte, kann jetzt alle Welt sehen. Als ich in Amerika war, reiste ich zum erstenmal ziemlich viel mit dem Flugzeug, und als ich auf die Erde hinunterschaute, sah ich alle die Linien des Kubismus, die zu einer Zeit entstanden waren, als noch kein Maler in einem Flugzeug aufgestiegen war, ... ja, ich sah das, und wieder einmal erkannte ich, dass ein schöpferischer Mensch zeitgenössisch ist; er versteht, was zeitgenössisch ist, wenn die Zeitgenossen es noch nicht wissen; er ist eben zeitgenössisch, und da das zwanzigste Jahrhundert ein Jahrhundert ist, welches die Erde sieht, wie noch keiner sie geschaut hat, hat die Erde eine Grossartigkeit, die sie noch nie gehabt hat, und da sich im zwanzigsten Jahrhundert alles zerstört und nichts fortgesetzt wird, hat das zwanzigste Jahrhundert eine ihm eigene Grossartigkeit, und Picasso ist; er hat diese seltsame Eigenart einer Erde, die man noch nie gesehen hat, und der zerstörten Dinge, die wie nie zuvor zerstört worden sind. So hat Picasso also seine Grossartigkeit. Ja. Danke.
Frankfurt/Main, Januar 1991